Zum Tod von Brian Wilson

Der geniale Popsongschreiber starb im Alter von 82 Jahren

Eine (kritische) Würdigung

Er schuf Weltkulturerbe-Popsongs für die Ewigkeit. Man denke nur an seine Beach Boys-Songklassiker „Good Vibrations“, „God Only Knows“, „California Girls“, „I Get Around“, „Fun Fun Fun“, „In My Room“ usw.

Und für das Beach Boys-Album „Surf‘s Up", veröffentlicht am 30.08.1971, schrieb er den Song „'Til I Die", in dessen Text es heißt:
„Ich bin ein Korken auf dem Ozean / Schwebend über dem tobenden Meer / Wie tief ist der Ozean? / Ich habe mich verirrt / Ich bin ein Fels in einem Erdrutsch / Über den Berghang rollend / Wie tief ist das Tal? / Es tötet meine Seele / Ich bin ein Blatt an einem windigen Tag / Bald werde ich weggeblasen / Wie lange wird der Wind wehen? / Bis ich sterbe / Diese Dinge werde ich sein, bis ich sterbe.“

 

Brian Wilson Live

 

Er gehörte zu den allergrößten Songschreibern der Popgeschichte. Was Lennon/McCartney in den 1960er Jahren für England und den Rest der Welt gewesen sind, das war er für Kalifornien und den Rest der US-amerikanisch-orientierten Pop-Welt. Was die Zahl der von ihm geschriebenen Tophits angeht, konnte er es gut und gerne mit dem nur 2 Tage älteren Paul McCartney aufnehmen. Und es gibt nicht wenige Enthusiasten, die seine Songschreiberideen der 60er Jahre höher einschätzen, als die von Paul McCartney. Doch seine große Zeit als erstklassiger Songschreiber und Performer schien mit Beginn seiner Solokonzerte und Soloalben vorbei zu sein. In seinen Konzerten vor und nach der Jahrtausendwende wirkte Brian Wilson wie ein Schatten seiner selbst - oder so, als würde er neben sich stehen. Seine Reaktionen wirkten mechanisch und wie verzögert. Als wäre er sediert und vollgepumpt mit Tranquilizern, so kam einem seine Mimik vor, seine Sprache war schablonenhaft gestanzt. Seine Körpersprache und Ausstrahlung glich der eines tumben Tors. Authentisch und impulsiv-lebendig ging jedenfalls anders. Die langjährige Drogenabhängigkeit forderte offensichtlich ihren Tribut. Die später erst diagnostizierte Demenz-Erkrankung schien sich hier bereits anzudeuten.

Seine Neukompositionen jener Zeit variierten nur noch die Formen und Muster seiner frühen Beach Boys-Hits. Konnte man damals seine frühen harmoniesüchtigen Songkompositionen für die Beach Boys noch als Ausdruck des sonnigen kalifornischen Lebensgefühls verstehen, so klangen seine neuen Songs nur noch nach heiler Welt und man kam sich vor, als wäre man in ein Museum geraten, das die Vergangenheit verklärt, idealisiert und verkitscht. Brian Wilson hatte mit seinem Solo-Album „Gettin’ In Over My Head“ von 2004 leider nur bestätigt, dass er als Songschreiber nichts mehr von Belang zur Popentwicklung beizutragen hatte. Seinen Freund Paul McCartney hatte er zu der süßlichen Schmonzette „A Friend Like You“ ins Studio geladen. Die beiden nahezu gleichaltrigen Top-Songkomponisten der 60er Jahre waren hier nicht gerade zu einem Gipfeltreffen vereint. Wollte man nachsichtig und gnädig urteilen, dann nannte man das schönen, altmodischen Kitsch.

 

 

Nicht nur Paul McCartney – wie im Song „A Friend Like You”, zählte zum Staraufgebot dieses Albums von Brian Wilson aus dem Jahre 2004, auch Eric Clapton und Elton John waren beteiligt, was aber nicht viel ändern konnte am zwiespältigen Eindruck, den die Musik hinterließ und dem eindeutigen Urteil, dass die Songkompositionen hoffnungslos antiquiert waren. Doch im Herbst 2004 erschien das legendäre, zu Beach Boys-Zeiten unvollendete Album „Smile“, das von Brian Wilson endlich zu einem Ende gebracht und mit seiner jungen Begleitband komplett neu eingespielt worden war. Die Songs des Albums „Smile“, deren Grundzüge in den Jahren 1966/67 entstanden und zum Teil ausgearbeitet waren, konnten den Songautor Wilson wieder rehabilitieren – jedenfalls für die Songqualität seiner alten Kompositionen.

 

Brian Wilson and Bass 2012

 

Die transatlantische Konkurrenz zwischen den kreativen Giganten Brian Wilson & The Beach Boys auf der einen und Lennon-McCartney & The Beatles auf der anderen Seite gehörte Mitte der sechziger Jahre zu den wichtigsten popkulturellen Phänomenen jener Zeit. Die gegenseitige Inspiration, freundschaftliche Rivalität und die ehrgeizige Anstachelung, mit der jeweils anderen Seite nicht nur mitzuhalten, sondern sie möglichst noch zu übertreffen, führte zu einem schöpferischen Kopf-an-Kopf-Rennen vor allem zwischen Brian Wilson und Paul McCartney und beflügelte beide Songschreiber zu ihren besten Songs und wegweisenden Albumkonzepten. Als die Beatles Ende 1965 ihr damaliges Meisterwerk „Rubber Soul“ veröffentlichten, fühlte sich Brian Wilson herausgefordert, Lennon-McCartney mit dem Beach Boys-Klassiker „Pet Sounds“ vom Mai 1966 zu übertrumpfen. Paul McCartneys Reaktion war, mit Lennon & Co das Jahrhundertalbum „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ zu kreieren. Zehn Monate zuvor hatten die Beatles bereits mit dem revolutionären Album „Revolver“ (August 1966) erneut Maßstäbe gesetzt. Brian Wilsons kreative Antwort mit seinem geplanten opus magnum für die Beach Boys „Smile“ blieb damals leider in Ansätzen stecken und scheiterte schließlich an seinen eigenen Drogenproblemen und an internen Band-Querelen.
Im Jahre 2008 ergab sich die Möglichkeit eines direkten Vergleichs zwischen den beiden Popsong-Großmeistern Brian Wilson und Paul McCartney. Am 2. September 2008 erschien Brian Wilsons Soloalbum „That Lucky Old Sun“. Paul McCartneys vergleichbares Album „Memory Almost Full“ war bereits ein Jahr zuvor auf den Markt gekommen.
„Sommer 1961, eine Göttin inspirierte mein Lied. Ich verlor mich in ihren Ozean-Augen, so unendlich wie der Himmel. Auf ewig wird sie mein ‚Surfer Girl’ sein.“ Wer wohl außer Brian Wilson konnte solche Zeilen schreiben und dazu alle musikalischen Register ziehen, die typisch waren für die Beach Boys? Zu den meist diskutierten Neuerscheinungen jener Tage gehörte das Album „That Lucky Old Sun“ von Brian Wilson. Seine damals neuen Songs waren hoffnungslos altmodisch und trotzdem hübsche Poplieder, die allerdings eine Zeit und deren Ideale beschworen, die nur noch im Museum existierten – und paradoxerweise zeitlos klangen, weil sie den Eindruck machten, es hätte sie schon immer gegeben. Brian Wilson meldete sich auf jeden Fall mit einem ebenso erfrischenden wie angestaubten Album im Stile der mitt-sechziger Beach Boys-Alben zurück. Und ein oder zwei seiner damaligen Songs hatten das Zeug zu überdauernden Pop-Perlen: Liebeslieder von seltener Leichtigkeit über ein Kalifornien, das es wahrscheinlich niemals gab.
Auch Paul McCartneys Album „Memory Almost Full“ wies retrospektive Züge auf, erhielt aber eine insgesamt bessere Bewertung. So lobte z.B das Rolling Stone Magazin, das Medley aus fünf Songs im zweiten Teil des Albums sei vergleichbar mit der berühmten Song-Suite im Beatles-Album „Abbey Road“. Kommerziell gesehen war der Unterschied noch viel gravierender: McCartneys Album erreichte Platz 3 in den Billboard-Charts, Brian Wilsons Album stagnierte auf Platz 21.

 

Albumcover "No Pier Pressure"

2015 stand der letzte Qualitätsvergleich an. Brian Wilson veröffentlichte am 7. April 2015 sein letztes Soloalbum „No Pier Pressure“, das insgesamt leider nur durchschnittlich ausfiel, teilweise sogar enttäuschend – gemessen an seinen eigenen Qualitätsmaßstäben aus den Sixties. Dagegen trumpfte Paul McCartney gehörig auf, fast wie zu seinen alten Beatles-Zeiten. Mit seiner Single „Hope For The Future“ war ihm mal wieder ein großer Pop-Hymnus gelungen und seine Kooperation mit Rihanna und Kanye West im Song „FourFiveSeconds“ war zwar musikalisch eher bescheiden, brachte ihm aber weltweite Top-5-Erfolge in den Charts.
Im direkten Vergleich der Solo-Produktionen hatte der Ex-Beatle eindeutig die Nase vorn, was Popularität und musikalische Kreativität angeht. Paul McCartneys Studioalbum „New“ von 2013 klingt soundtechnisch und stilistisch moderner und ist kompositorisch variabler und frischer als Brian Wilsons letztes Solo-Album „No Pier Pressure“ von 2015.
Man hätte Brian Wilson im Spätherbst seiner Karriere nochmals einen musikalischen Triumph gegönnt: ein großes, kreatives Alterswerk, das McCartneys überbietbare Songqualität noch einmal übertrumpft hätte. Doch nun ist der kreative Wettbewerb zwischen den einstigen Songschreiber-Giganten endgültig zu Gunsten von Paul McCartney ausgegangen. (Volker Rebell)

 

Brian Wilson, 2012

 

Radio-Rebell sendet zu Ehren von Brian Wilson acht Themenstunden am Fr 20.06.2025, dem 83. Geburtstag von Brian Wilson:
16 Uhr: Brian Wilson & Beach Boys live at Knebworth 1980 (das letzte Konzert in der Originalbesetzung mit Brian Wilson und seinen Brüdern Dennis und Carl)
17 Uhr: Brian Wilson and Friends live 2014
18 Uhr: Brian Wilson presents Pet Sound live 2002
19 Uhr: Brian Wilson presents SMILE 2004
20 Uhr: The Beach Boys Classics selected by Brian Wilson Teil 1
21 Uhr: The Beach Boys Classics selected by Brian Wilson Teil 2
22 Uhr: Brian Wilson zum 80. Geburtstag (Wiederholung der Sendung v.23.06.2022)
23 Uhr: Caroline Now! Tribute-Album. Die Songs von Brian Wilson und den Beach Boys, interpretiert von Künstlern und Bands der Indie-Pop/Rock-Szene)

Mehr zu Brian Wilson in Radio-Rebell:

Blog vom 19.06.2022
https://radio-rebell.de/zum-80-geburtstag-von-brian-wilson/

Radiosendung vom 23.06.2022
https://radio-rebell.de/sendung-zu-brian-wilsons-80-geburtstag/

 

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