John Lennon – zum 80. Geburtstag einer Legende

Kaum ein Popmusiker war einflussreicher und inspirierender als er

Auch 40 Jahre nach seinem Tod bleibt er relevant und aktuell

John Lennon (Photo-Graphic-Art: Gerd Coordes)

War er der „größte Egomane in der Geschichte der Popmusik“ (Der Spiegel), oder nur ein unangepasster Individualist, der „es ablehnte nach irgend etwas anderem als nach seiner eigenen Fasson zu leben“ (Rolling Stone-Magazin)? Zu Zeiten der Fab Four hatte John Lennon das Image vom scharfzüngigen, schlagfertigen Intellektuellen mit Nickelbrille, der ebenso witzig wie sarkastisch sein konnte. Während seiner letzten Lebensjahre galt er vielen als biederer Hausmann und bourgeoiser Pop-Rentiér.
Wer war John Winston Lennon?
Die Beschäftigung mit seiner Musik, seinen Songtexten, Büchern und veröffentlichten Interviews gibt eine vielschichtige Persönlichkeit zu erkennen. In den verschiedenen Stadien seines Lebens kamen höchst unterschiedliche, fast widersprüchliche Teilaspekte des vielbegabten Genius zum Vorschein.
Er war unglaublich verletzlich und sensibel, aber auch angriffslustig und verletzend.
Er war zugleich unberechenbarer Zyniker und schwärmerischer Sinnsucher, „instinktiver Poet des Proletariats“, introvertierter Narziss, polit-missionarischer Einzelkämpfer, Happening-Aktionist und utopischer Träumer. Er war radikaler Avantgardist, archaischer Rock’n’Roller und bekennender Liebeslied-Romantiker – und vor allem: er war ein großartiger Sänger und begnadeter Songschreiber.
In die Geschichte ging er ein als herausragende Persönlichkeit der Popkultur und als „einer der größten Musiker aller Zeiten“ (Leonard Bernstein).

John Lennon 1977 (Photo-Graphic-Art: Gerd Coordes)

„Er will nicht mehr seine Seele verkaufen, um einen Hit zu haben. Er könne gut ohne Hits leben. Es mache ihn nicht weniger glücklich. Und er wolle nicht mehr eine konstruierte Person sein und ein Image verkörpern, das nichts mit ihm zu tun habe. Er habe nur mit zwei Künstlern wirklich intensiv zusammengearbeitet, das sei Paul McCartney und Yoko Ono – und das sei doch wahrlich keine schlechte Wahl“. Dies sagte John Lennon in einem Interview, das er am Vormittag des 8. Dezembers 1980 gab, wenige Stunden bevor er von einem geistig gestörten Fan erschossen wurde.

John Lennon - Rooftop Concert Jan. 1969 (Photo-Graphic-Art: Gerd Coordes)

Er ist ein Popstar für die Ewigkeit und schrieb in einer seiner Kurzgeschichten: „Die Ewigkeit dauert verdammt lange“. Sein reales Leben dauerte nur 40 Jahre. Vor rund 40 Jahren wurde er von einem psychopathischen Fan erschossen. Und heute (09.10.2020) vor 80 Jahren wurde er geboren. Die Überschrift dieser Hommage in radio-rebell lautet – nach einem Wortspiel des Meisters selbst: „John Lennon Wonsaponatime“.
Es war einmal ein vierblättriges Kleeblatt, das so viel Glück und Begeisterung über die jungen Menschen brachte, dass es kaum auszuhalten war. Der frechste und aufmüpfigste des Quartetts hielt es auch nicht lange aus, machte eine Japanerin zu seiner Königin und ließ es zu, betrieb es sogar, dass das Glückskleeblatt zerrupft wurde.

The Beatles 1966
(Photo-Graphic-Art: Gerd Coordes)

Weil das Kleeblatt nur andere glücklich gemacht hatte, nicht aber ihn selbst, drum ging er seine eigenen Wege, um endlich zu sich selbst zu kommen. Ob er dort schließlich angekommen ist? Zeitlebens beschäftigte er sich mit drei großen Themen: Liebe, Frieden und Wahrheit. Seine Kernsätze lauteten: „All You Need Is Love”, „Give Peace A Chance“ und „Gimme Some Truth“.
Zu seinem 80. Geburtstag erscheint eine neue, opulente Compilation mit 36 seiner essenziellen Songs unter dem Titel „Gimme Some Truth“.
Der Text dieses Songs ist brandaktuell. Man greife nur diese Zeile heraus: „I've had enough of reading things by neurotic psychotic pigheaded politicians. All I want is the truth!“

„Ich habe es satt, Sachen zu hören von engstirnig-kurzsichtigen verklemmten Heuchlern. Alles was ich will ist die Wahrheit. Ich habe genug davon, Sachen zu lesen von neurotisch-psychopatischen schweinsköpfigen Politikern. Alles was ich will ist die Wahrheit. Ich habe es satt, Sachen zu sehen von schmallippig-hochnäsigen Muttersöhnchen-Chauvinisten. Alles was ich will ist die Wahrheit. Gib mir jetzt ein wenig Wahrheit.“ – so heißt es fast wütend kämpferisch im Song „Gimme Some Truth“ aus dem Lennon-Album „Imagine“ von 1971, und auch enthalten im Doppelalbum „Working Class Hero – The Definitive Lennon“.
Die definitiven Lennon-Songs sagen fast alles über ihren Urheber selbst aus. Die definitiven Lennon-Songs sind musikalisch eindrucksvoll und zeichnen sich durch prägnante Texte aus, mal sind sie plakativ slogan-ähnlich, mal persönlich bekenntnishaft, mal poetisch assoziativ, fast ins Absurde überdreht. Zu letzteren Texten zählt auch der folgende, wenig bekannte Lennon-Song-Text: „Ein Schäferhund, der im Regen steht. Ein Ochsenfrosch, der es noch mal macht. Manche Arten von Glück werden in Meilen gemessen. Warum glaubst du, dass du was besonderes bist, wenn du lächelst. Wie ein Kind, das keiner versteht. Ein Klappmesser in der feuchten Hand. Manche Unschuld wird nach Jahren gemessen. Ich weiß nicht, wie das ist, deinen Ängsten zuzuhören. Du kannst mit mir reden. Wenn du einsam bist, kannst du mit mir reden. Ich höre zu.“

Was für ein Song! Die ganze Zerrissenheit, aber auch die kreative Fabulierlust von John Lennon steckt in diesem Text, der von Glück und Angst und Einsamkeit handelt und am Schluss in eine überdrehte Stimmenorgie mündet, mit einem witzig-absurden Dialog, der mit Johns Frage an Paul beginnt: „What do you say?“ Und Paul antwortet mit einem kurz gebellten: „Ich sagte Wuff!“ - „Sonst weiter nichts?“, fragt John, worauf Paul zu heulen, winseln und kläffen anfängt. Erst seelenschwere Selbstreflexion, teilweise surrealistisch verfremdet, dann launige Jokes, als würden ausgelassene Pennäler auf dem Schulhof ihren Schabernack treiben: das ist die besondere Mixtur aus Kunst und Kuriosität, Anspruch und Amüsement, Ernsthaftigkeit und sich dabei selbst ja nicht so ernst nehmen.
„Hey Bulldog“ ist ein gutes Beispiel für die lustvoll kreative Arbeitsweise, die John Lennon mit seinen Beatles-Kumpanen oft pflegte – und dieses augenzwinkernd spielerische Element, das seinen Soloalben übrigens meist fehlen sollte. gehörte zu den Kicks, die das Quartett für ihre Zeitgenossen so unwiderstehlich machte.
„Hey Bulldog“ gehört zu den besten und am meisten unterbewerteten Glanzstücken, die John Lennon für die Beatles geschrieben hat, erstveröffentlicht im Januar 1969 innerhalb des Soundtrack-Albums zum Zeichentrickfilm „Yellow Submarine“. Und „Hey Bulldog“ darf zu den prägnantesten Rock-Einspielungen der Beatles überhaupt gezählt werden. Die Aufnahme klingt selbst heute noch zeitgemäß und überzeugend, nicht zuletzt dank der treibenden Intensität in John Lennons Stimme. Tatsächlich war er neben Paul einer der großartigsten Gesangssolisten seiner Zeit, verfügte über die Schreihals-Attitüde des archetypischen Rock’n’Roll-Shouters, beherrschte das emphatische Herausröhren genauso wie das verhaltene, kultivierte Phrasieren. Und wenn er wollte, hatte seine Stimme eine unglaubliche Überrumpelungskraft

Mitreißend ansteckend, überrumpelnd waren die frühen Rockkompositionen, die John Lennon für die Beatles schrieb. Sein musikalisch-kompositorisches Handwerk hatte er u.a. von seinen schwarzen Vorbildern Smokey Robinson, Arthur Alexander und Chuck Berry gelernt. Aber er vermied das rock’n’roll-typische Blues-Harmonieschema und verwendete vor allem im Strophen- und Mittelteil weichere, moll-angereicherte Harmoniegefüge. Die Grundspannung zwischen dem eher harten geradlinig-forschen Hauptthema und dem eher gefühlsbetonten weichen Nebenthema machte den Reiz dieser frühen Lennon-Songs aus, denn sie befriedigten sowohl die aktiven als auch die passiven Bedürfnisse, die aggressiven wie die zärtlichen Wünsche der jugendlichen Zuhörer. Lennons expressives Bekenntnis „Anytime At All“, immer und jederzeit sei er zur Stelle, wenn er nur gerufen werde, stammt aus dem Beatles-Album „ A Hard Day’s Night“, erschienen im Juli 1964, auf dem Höhepunkt der Beatlemania.

John Lennon 1964
(Photo-Graphic-Art: Gerd Coordes)

„Anytime At All“ trägt auch ein wenig Züge von einem Selbstzitat, denn der Song ähnelt in Melodik und Harmonik seinem früheren Song „It Won’t Be Long“. John Lennon hat schon in frühen Beatles-Zeiten meist über sich selbst geschrieben, über seine Sicht der Dinge und über seine persönlichen Probleme und psychologischen Schwierigkeiten. Das Gefühl von Verlust, Unsicherheit und Desorientierung hat er schon in frühen Songs ausgedrückt, um nur die Songs „I’m A Loser“ oder „Nowhere Man“ zu nennen. Der Verlierer und der Nirgendwomann, das war ein-und-dieselbe Person, die nach außen zwar perfekt zu funktionieren scheint, aber wie’s da drin aussieht, das gleicht einem Psychodrama aus Selbstzweifel, Ängsten, Schmerzen und Verwirrung.
„Er ist nur ein Nirgendsmann, sitzt in seinem Nirgendsland und macht so manchen Nirgendsplan für nirgendwen. Er hat keinen Standpunkt, weiß nicht, wohin er geht. Ist er nicht ein bisschen wie du und ich?“

John Lennons Selbstreflexion „Nowhere Man” erschien im Dezember 1965 innerhalb des Beatles-Albums „Rubber Soul”. Wer bin ich, was will ich wirklich, wo kommen diese inneren Zweifel und Schmerzen her? Diese Fragen haben sich für John Lennon im Oktober 1965 besonders drängend gestellt, denn plötzlich tauchte da aus dem Nichts ein abgerissen aussehender Seemann in Johns Leben auf, der sich als Fred Lennon vorstellte, es war sein Vater. Seit seinem fünften Lebensjahr hatte John nichts mehr von seinem Vater gehört und auch jetzt musste er feststellen, dass sein Vater kein wirkliches Interesse an seinem Sohn hatte. Der Grund für sein plötzliches Auftauchen nach 20 Jahren, war Geld. Er war pleite und hatte gehört, dass sein Sohn als erfolgreicher Sänger Millionär geworden war. In langen quälenden Gesprächen mit seinem Vater, versuchte John Klarheit über seine Kindheit zu gewinnen. Aber das Gespräch mit seinem Vater Fred Lennon konnte dem Sohn nicht viel weiterhelfen, Vater Fred wies alle Schuld von sich und machte Johns Mutter Julia für alles verantwortlich.
Doch John wusste es besser. Wie er selbst all das mit seinem Vater, seiner Mutter und seiner Tante einschätzte, davon berichtete er 1972 in einem Interview:
„Ich bin bei meiner Tante aufgewachsen. Mein Vater und meine Mutter haben sich getrennt, da war ich ungefähr vier. Ich war bei meiner Mutter bis ungefähr zu meinem vierten Lebensjahr. Dann ist mein Vater abgehauen. Er war Matrose bei der Handelsmarine. Man kann sich das ja vorstellen. Es waren die 40er Jahre, es war Krieg und all das. Und ich glaube, so ganz ohne jemanden konnte meine Mutter nicht leben, und er ging einfach. Und ich wurde zu einer Tante gegeben. Und mit 13 habe ich wieder Kontakt mit meiner Mutter bekommen, für ungefähr vier Jahre. Sie brachte mir das Musikmachen bei, zuerst habe ich Banjo gespielt und dann Gitarre. Der erste Song, den ich gelernt habe, war „Aint That A Shame“ von Fats Domino. Und dann wurde sie leider von einem Polizisten außer Dienst überfahren, der gerade betrunken war. Trotzdem bin ich kein Bullenhasser geworden. Ich meine, jeder hat halt menschliche Schwächen. Aber damals war das ein irrer Schlag für mich. Und ich bin danach nur noch überall angeeckt. Ab und zu kommt es immer noch hoch, weil ich so ein seltsames Leben führe. Alles in allem jedoch habe ich heute meine eigene Familie. Damit meine ich Yoko. Sie hat all diesen Schmerz wieder gutgemacht.“

John & Yoko (Foto: Jack Mitchell, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons)

Für das Weiße Album schrieb John seinen Song „Julia“. Es ist sein Liebeslied für die beiden wichtigsten Frauen seines Lebens: seine früh ums Leben gekommene Mutter „Julia“ und seine große Liebe und Inspiration – auch sein Mutterersatz – Yoko. Im Text ruft sie nach ihm: „Ocean child calls me.“ Yoko heißt auf Japanisch „Meereskind“, und John spürt, dass er dem Ruf des Meereskindes folgen will, wenn nicht gar folgen muss. Es hat den Anschein, als wolle John mit diesem Lied seiner Mutter Julia die neue Liebe Yoko vorstellen, und: als würde seine Liebe zu den beiden Frauen verschmelzen, so wie die Verehrung für beide in den lyrischen Bildern des Songtextes ineinander fließt. Diese in ihrer Schlichtheit und Tiefe beeindruckende Gitarrenballade „Julia“ gehört zu John Lennons sensibelsten Liedern

Im Song „Julia“ spricht John Lennon sozusagen mit seiner verlorenen Mutter und wendet sich gleichzeitig seiner neuen Liebe Yoko Ono zu – und er tritt im Grunde auch in Kontakt mit einem tieferen Teil seiner selbst. John Lennons emotional so schmerzlich zerrissenes Verhältnis zu seiner Mutter Julia haben Hobby-Psychologen immer als eigentliche Ursache dafür angesehen, dass er von Yoko Ono zeitlebens emotional abhängig war. Interessanterweise nannte er Yoko meist „Madam“ oder „Mother“. Aber niemand sollte sich anmaßen, seine große Liebe zu ihr als zwanghafte Abhängigkeit zu interpretieren. Fast ein Drittel aller Songs aus seiner Solo-Zeit sind Liebeslieder für Yoko, oder handeln von ihr. Und aus keinem dieser Lieder spricht so etwas wie sklavische Auslieferung oder blinde Unterwürfigkeit, was man Johns Verhältnis zu Yoko oft unterstellt hat, nein, aus diesen ungemein sensiblen und poetischen Liedern spricht - neben aller romantischer Schwärmerei - tiefer Respekt, feinfühlige Offenbarung und die Fähigkeit zu vorbehaltloser Hingabe. Um nur die Songs „Oh My Love“, „Oh Yoko“ und „Dear Yoko“ zu nennen – und natürlich nicht zu vergessen: das berühmte Liebeslied aus dem Album „Double Fantasy“.
„Frau, ich kann’s nur schwer erklären, meine verwirrten Gefühle über meine Gedankenlosigkeit. Nach all dem stehe ich für immer tief in deiner Schuld. Und Frau, ich werde versuchen, meinen innersten Gefühlen und meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen. Frau, ich weiß, du verstehst das kleine Kind im Mann. Bitte denke daran, mein Leben liegt in deinen Händen. Egal wie groß die Entfernung ist, nichts wird uns trennen können“,
so heißt es im Text des ebenso reflektierenden wie hingebungsvollen Liebesliedes für Yoko „Woman“

Wer war John Winston Ono Lennon?, diese Frage zieht sich viele seiner Songtexte. War er mehr Träumer oder mehr Realist? War er mit wachsendem Alter so friedlich geworden, wie seine Songbotschaften? Oder war er noch immer rebellisch, konnte er noch genauso verletzend sein wie in seiner jungen Sturm- und Drang-Zeit?
Wer bin ich? Diese Frage stellte er sich selbst in einem kleinen Gitarrenlied von 1970. Seine Antwort ist typisch für ihn. Im Text heißt es:
„Schau mich an, wer soll ich sein? Wer bin ich? Keiner außer mir weiß es. Niemand anderes kann es sehen, nur du und ich“

Seine Selbstfindung trat erst nach den Beatles in die entscheidende Phase „But now I’m John“, das war die Schlüsselzeile in diesem langjährigen Prozess und war eine der entscheidenden Zeilen in seinem Song „God“ von 1970, in dem er aufzählte, an wen er alles nicht glaubt, an Magie ebenso wenig wie an die Bibel, nicht an Tarot, nicht an Hitler, nicht an Jesus, nicht an Kennedy, nicht an Buddha, nicht an ein Mantra, weder an Elvis noch an Zimmermann, was der bürgerliche Name von Bob Dylan ist. Und dann heißt es: „Ich glaube nicht an die Beatles. Ich glaube nur an mich, an Yoko und mich. Das ist die Wirklichkeit, der Traum ist vorbei. Was kann ich sagen? Der Traum ist vorbei. Gestern war ich der Traumweber, aber jetzt wurde ich wiedergeboren. Ich war das Walross (gemeint ist sein Beatles-Song „I Am The Walrus“) aber jetzt bin ich John“.

Der Traum ist vorbei, sang John Lennon in seinem Song „God“, enthalten im ersten Solo-Album nach der Beatles-Trennung „John Lennon/Plastic Ono Band“, das im Dezember 1970 veröffentlicht wurde. Mit dem zu Ende gegangenen Traum meinte er natürlich die Beatles. Er war aus einem fast irrealen Traum aufgewacht, diese Ära war zu Ende. Einerseits schmerzlich, aber - vor allem für ihn und seine persönliche Entwicklung - eine Befreiung. Er war 30 geworden. Er musste und wollte endlich sein eigenes Leben führen, er musste sich endlich von den alten Dämonen befreien, die an seiner Seele nagten, weg von den Drogen – er war kurzzeitig sogar Heroin-abhängig. Das war seine Realität: sein inneres Durcheinander, das die Beatles-Hybris eher noch verstärkt hatte. Der Traum von einem unwirklichen Leben musste zu Ende gehen. Jetzt war er nur noch John, mit all seinen Talenten und Schwächen, mit seinem Genie und seiner latenten Paranoia. Und als John konnte er damit klarkommen, als Beatle nicht. Und er würde es schaffen. Er war 30 und sollte nur noch 10 Jahre zu leben haben.

John Lennon 1969
(Photo-Graphic-Art: Gerd Coordes)

In einem Interview, das John Lennon im November 1980 gab, behauptete er, Mick Jagger habe aus seinem Lennon-Song „Bless You“, den Stones-Song „Miss You“ gemacht, in dem er das Tempo beschleunigt habe. „Aber trotzdem kann ich diesen Riff heraushören“, sagte Lennon wörtlich und verweist damit auf das Haupt-Melodiethema in seinem Song „Bless You“. Er wollte Mick Jagger aber nicht unterstellen, dass er bewusst geklaut habe. Er sagte: „Es könnte unbewusst geschehen sein oder bewusst, das ist unerheblich. Musik ist jedermanns Besitz. Es sind nur die Verleger, die glauben, dass Musik nur bestimmten Leuten gehört. John Lennons Song „Bless You“ ist eine Liebeserklärung an Yoko, entstanden in der Schlussphase ihrer schwersten Krise, der längeren Trennung während des so genannten „Lost Weekend“. Dass es deutliche Ähnlichkeiten gäbe zwischen „Miss You“ von den Stones und „Bless You“ von John Lennon, ist eine gewagte These.

„Gesegnet seist du, wo immer du bist, vom Wind verwehtes Kind auf einer Sternenschnuppe. Noch immer sind wir tief miteinander in unserem Herzen verbunden. Einige Leute behaupten, es sei vorüber, jetzt, wo wir unsere Flügel ausbreiten. Aber wir wissen es besser, Liebling. Der leere Klang ist nur das Echo vom letzten Jahr. Erinnere dich immer daran, obwohl die Liebe zuweilen sonderbar ist, unsere Liebe wird für jetzt und immer bestehen,“ dies sang John Lennon in seinem schönen, aber wenig bekannten Liebeslied für Yoko „Bless You“, entstanden während seiner 18-monatigen Trennung, dem später so genannten „Lost Weekend“, einer von Sauforgien und Skandälchen begleiteten Auszeit in Los Angeles, die John Lennon offenbar getrennt von seiner großen Liebe Yoko nehmen musste. Der Song „Bless You“ erschien im Album „Walls And Bridges“, das im September 1974 veröffentlicht wurde und in den USA Platz 1 erreichte. Lennon selbst bezeichnete das Album „Walls And Bridges“, das während der Trennung von Yoko entstand, als ein gutes Album, das aber insgesamt von schrecklicher Verwirrung und Einsamkeit geprägt sei. Im Januar 1975 kehrte John Lennon wieder nach New York zurück und zog wieder zu Yoko in die gemeinsame Wohnung im Dakota Building am Central Park, wo er knapp 5 Jahre später von 5 Kugeln getroffen wurde und starb.

Die 5 Schüsse, die am 8. Dezember vor 40 Jahren von einem psychopathischen Fan abgefeuert wurden, sind hier etwas melodramatisch inszeniert worden von den irischen Cranberries. „I just shot John Lennon“ hat der Attentäter Mark David Chapman in einer Mischung aus scheinbarem Unbeteiligtsein und makabrem Stolz vor der Polizei zu Protokoll gegeben. Die Schüsse fielen um 22 Uhr 50 Ortszeit in New York am 8. Dezember 1980. Zu dieser Uhrzeit, war es bedingt durch die Zeitverschiebung, zuhause in seiner Geburtsstadt Liverpool bereits der 9. Dezember.
Die Zahl 9 schien für John Lennon eine besondere Bedeutung zu haben. Die 9 taucht jedenfalls in seinem Leben und seinen Songs öfter auf. Er schrieb Songs wie „One After 909“ und „#9 Dream“. Und seine berühmte Klangcollage aus dem Weißen Album nannte er „Revolution 9“.
Merkwürdig ist auch, dass seine wichtigsten Lebensdaten mit einer 9 beginnen. Er selbst wurde am 9. Oktober 1940 geboren, sein Sohn Sean am 9. Oktober 1975. Als Kind lebte er lange in der Newcastle Road Nummer 9. Am 9. November 1966 lernte er Yoko Ono kennen. Die Beatles-Karriere begann mit dem ersten Zusammentreffen mit ihrem späteren Manager Brian Epstein am 9. November 1961. Am 9. Mai 1962 hörte ihr späterer Produzent George Martin zum ersten Mal Demos der Beatles und vereinbarte Probeaufnahmen für die erste Beatles-Single „Love Me Do“. Nachdem er 1969 in einer offiziellen Zeremonie vor einem Notar seinen Namen geändert hatte – von John Winston Lennon in John Winston Ono Lennon (auch Yoko Ono hatte zusätzlich den Namen Lennon angenommen), da sagte John in einem Interview, Yoko habe seinen und er ihren Namen angenommen, nun hätten sie zusammen neun O’s, das würde Glück bedeuten. Sein Album „Mind Games“ und die Single „#9 Dream“ belegten in den USA jeweils den Platz Nr. 9 in den Charts. Am 09.09.09 sollte der gesamte Beatles-Katalog remastered neu auf den Markt kommen. Undsoweiter. Man kann es auch übertreiben mit der Numerologie.
John Lennon sagte jedenfalls verschiedentlich, die Zahl 9 habe für ihn etwas Magisches. Im Text seines Songs „#9 Dream“ heißt es: „So lange her, war es in einem Traum? Es schien so überaus wirklich. Ich machte einen Spaziergang auf der Straße. In der Hitze flüsterten Bäume, jemand rief meinen Namen. Es begann zu regnen, zwei Geister tanzten so seltsam. War Magie in der Luft? Ich glaube ja, mehr kann ich nicht sagen. Was kann ich noch sagen? Auf einem Fluss aus Klängen ... im Spiegel geht es rund und rund ... ich dachte, ich könnte fühlen. Musik berührt meine Seele. Etwas Warmes war plötzlich kalt. Der Geistertanz begann

Die lautmalerische Refrainzeile „A böwakawa poussé poussé“ soll gälisch-keltischen Ursprungs sein und so viel bedeuten wie: „Zum Leben erwecken, sprießen“. Dieser Lennon-Song „#9-Dream“ erschien im Album „Walls And Bridges“ von 1974.
Im gleichen Album sang er einen bemerkenswerten ahnungsvollen Text:
„Niemand liebt dich, wenn du total fertig bist. Jeder liebt dich, wenn du sechs Fuß unter der Erde liegst. Alles was ich dir sagen kann, es ist alles nur Show-Geschäft. Jeder hetzt sich ab, für’n paar lumpige Kröten. Ich kratz dir den Rücken und du jagst mir ein Messer in den Rücken. Niemand liebt dich, wenn du total fertig bist. Dann liege ich in der Dunkelheit und kann nicht schlafen. Niemand liebt dich, wenn du alt und grau bist. Niemand braucht dich, wenn du komplett durcheinander bist. Jeder bejubelt nur seinen eigenen Geburtstag. Jeder liebt dich, wenn du sechs Fuß unter der Erde liegst“, so lauten einige Zeilen aus diesem Song „Nobody loves you when you’re down and out“, 1974 veröffentlicht im Album „Walls And Bridges“.

Zum folgenden Song „Borrowed Time“, einem seiner letzten, gibt es ein fantastisches Video, hier gleich folgend. Im Songtext heißt es: „Als ich jünger war, lebte ich in Verwirrung und tiefer Verzweiflung. Als ich jünger war gab es die Illusion von Freiheit und Stärke, voller Ideale und zerbrochener Träume. Alles war einfach, aber nicht so klar. Ich lebte von geborgter Zeit ohne einen Gedanken an Morgen. Je älter ich werde, desto mehr sehe ich, dass ich mit Sicherheit weniger weiß. Jetzt bin ich älter, die Zukunft ist klarer. Gut älter zu sein. Würde keinen einzigen Tag oder ein Jahr eintauschen. Gut älter zu sein. Weniger Komplikationen, alles ist klar. Ich lebte von geborgter Zeit.“ Als er dies sang, war er 40 und hatte nur noch wenige Tage zu leben.

Das ist so etwas wie ein unvollendeter Song. Zur endgültigen Gesangsaufnahme ist er nicht mehr gekommen, so musste eben dieser Gesangstake aus einer Probe verwendet werden. Aus dem postum veröffentlichten Album „Milk And Honey“ stammt dieser Song „Borrowed Time“, der ebenfalls im Doppelalbum „Working Class Hero – The Definitive Lennon“ enthalten ist und im Doppelalbum „JOHN LENNON. GIMME SOME TRUTH. THE ULTIMATE MIXES“, das zu seinem 80. Geburtstag auf den Markt kommt.
Zu den schönsten Songs, die John Lennon je geschrieben hat, gehört „Across The Universe“, erschienen innerhalb des Abschiedsalbums der Beatles „Let It Be“, veröffentlicht im Mai 1970.
In seinem Interview im Dezember 1970 mit dem Musikmagazin Rolling Stone, nannte er seinen Songtext poetisch so gelungen wie kaum ein anderer. Auch ohne Musik könne der Text für sich stehen und wie ein Gedicht gelesen werden.
Die Grundidee, ein Mantra in Sanskrit im Refrain eines neuen Songs zu verwenden, kam John Lennon nach dem Besuch eines Seminars über Transzendentale Meditation des indischen Gurus Maharishi Mahesh Yogi im August 1967 im walisischen Bangor. Im Refrain singt John das Mantra „Jai Guru Deva Om“ (zu deutsch etwa „Ehre dem göttlichen Meister“), was gleichermaßen eine Hommage an den hinduistischen Guru Deva ist, den Lehrer des Maharishi.

Marko Kafé, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Dies ist der Versuch einer Übersetzung:
„Worte fließen wie nimmer enden wollender Regen in einen Papp-Becher, sie gleiten vorbei, fliegen hinaus ins Universum.
Seen aus Schmerz, Wellen aus Glück durchfluten meinen weit geöffneten Geist, nehmen von mir Besitz mit Zärtlichkeit.
Bilder in gebrochenem Licht
Tanzen vor mir wie Millionen Augen.
Sie rufen mich weiter und weiter hinaus ins Universum.
Gedanken mäandern wie ruheloser eingesperrter Wind,
stolpern und holpern als wären sie blind,
weben verworrene Bahnen auf ihrem Weg durchs Universum.
Klänge von Lachen, Schatten des Lebens tönen in meinen offenen Ohren, laden mich ein, fordern mich auf.
Grenzenlose, unsterbliche Liebe umstrahlt mich wie Millionen Sonnen,
ruft mich, ihr zu folgen durch das Universum.
Ehre dem großen, göttlichen Lehrer.
Nichts wird meine Welt mehr ändern können.. „
Die Melodik der Strophen fließt in sanften Wellen auf und ab, während die Refrainmelodie auch größere Intervallsprünge aufweist. Das Harmonieschema der Strophen ist balladesk mollreich und die gesamte Ausstrahlung des Songs folgt der Botschaft, die John Lennon zum Ausdruck bringen wollte mit seiner „Beschwörung der grenzenlosen Einheit in der gesamten Schöpfung“.

Onseaponatime, es war einmal und so wird es ewig bleiben. John Lennon gehört zu den Unsterblichen der Popkultur. Am 9. Oktober 2020 hätte er seinen 80. Geburtstag feiern können.

John Lennon (Photo-Graphic-Art: Gerd Coordes)

Als Zugabe folgen fünf hervorragend gestaltete Videos aus der DVD „Lennon Legend“ von 2003, zum 80. Geburtstag von John Lennon auf YouTube wiederveröffentlicht als Promo für die neue Box „JOHN LENNON. GIMME SOME TRUTH. THE ULTIMATE MIXES. The Very Best of John Lennon. 36 tracks completely remixed from the original multitracks in Stereo, 5.1 and Dolby Atmos“. Veröffentlichungstermin 09.10.2020

„(Just Like) Starting Over“ – Eröffnungssong des Albums „Double Fantasy“ von Lennon/Ono, aufgenommen am 9. August 1980, veröffentlicht als Single am 24. Oktober 1980 und innerhalb des Albums „Double Fantasy“ am 17. November 1980
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„Workin Class Hero“ – veröffentlicht am 11. Dezember 1970 innerhalb des ersten Soloalbums von John Lennon nach der Beatles-Trennung „John Lennon/Plastic Ono Band“

„Give Peace A Chance“ – aufgenommen am 1. Juni 1969 im Queen Elizabeth Hotel in Montreal während des Happenings „Bed-in for peaece“ von John Lennon und Yoko Ono, als Single veröffentlicht am 4. Juli 1969. Es war die erste Solo-Single eines Beatles-Bandmitglieds.

„Whatever Gets You Thru The Night“ - John Lennon (feat. Elton John) – als Single veröffentlicht am 23. September 1974. Es war John Lennons einzige Nr.1-Single in den USA zu seinen Lebzeiten. Der Song war auch Bestandteil des 5. Studioalbums von John Lennon „Walls And Bridges“, veröffentlicht am 26. September 1974

„Imagine“ – das Titelstück des zweiten Solo-Studioalbums von John Lennon nach der Trennung der Beatles, veröffentlicht am 9. September 1971 in den USA und am 8. Oktober 1971 in Großbritannien unter dem Bandnamen „John Lennon/Plastic Ono Band (with The Flux Fiddlers)“
Wie relevant John Lennon auch heute noch ist, macht alleine dieser Song deutlich. Es vergeht kein terroristischer Anschlag, kein mörderischer Amoklauf, ohne dass aus dem Kreise der Trauernden, Betroffenen und Mitfühlenden irgendjemand die tröstende Humanitäts-Hymne „Imagine“ anstimmen würde.

John Lennon (Photo-Graphic-Art: Gerd Coordes)