Jimi Hendrix – zum 80. Geburtstag

Der Mythos Hendrix lebt - auch 52 Jahre nach seinem Tod

Zum 80. erscheint ein neues Live-Album und eine neue Bildband-Biografie

Albumcover

 

Würde Jimi Hendrix seinen 80. Geburtstag bei bester Gesundheit feiern können, welche Musik würde man an seinem Ehrentag im Radio hören? Die alten Klassiker wohl auch, aber sicher vor allem seine neuere Musik. Wie könnte die klingen? Nach futuristischem HipHop, orchestralem Space-Bluesrock oder abgefahrenem Zukunfts-Jazz? Auf jeden Fall/wahrscheinlich hätte er noch so manches an extravaganter Musik veröffentlicht.

Er war einer der großen Musikerneuerer seiner Zeit, revolutionierte das Rock-Gitarrenspiel, experimentierte mit Elektronik und innovativen Klangtechniken. Und er spielte als Saiten-Magier und „Gitarren-Genius“ einen unverwechselbaren Stil: eine Art von psychedelischem Sciencefiction-Bluesrock – oft kopiert, nie erreicht. Sein Einfluss auf Rockgitarristen, die nach ihm kamen und auf die gesamte Entwicklung der Popular-Musik kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Auch als Sänger mit blues-getränkter Soul-Stimme und eigenem vokalen Charakter, in dem Elemente des späteren Rap-Sprechgesangs der Hiphop-Ära bereits vorweg genommen und erkennbar waren, nahm er eine exponierte Stellung ein.

Nicht zuletzt seine besonderen Fähigkeiten als Songschreiber mit eigenem Profil, in dem Rhythm’n’Blues, Rock’n’Roll, Psychedelic und Electronica miteinander verschmolzen und erst recht seine unvergleichliche, hochenergetische Performance, in der spätere Genres wie Jazzrock, Fusion, Hard Rock und Heavy Metal bereits angelegt waren, begründeten seine Ausnahmestellung in der Rockmusik bis heute. Er sang von fernen Galaxien und utopischen Zeitreisen und suchte in seinen Songtexten nach Liebe und Freiheit. Beides schien er in der Realität seines kurzen Lebens nicht gefunden zu haben.
Am 1. Dezember 1967 erschien innerhalb seines hoch gelobten zweiten Studioalbums „Axis: Bold As Love“ der Song „Castles Made Of Sand“, dessen Refrainzeile wohl auch sein kurzes Leben hätte überschreiben können: „Schlösser, die auf Sand gebaut sind, werden letztlich vom Meer hinweggespült.“

 

The Jimi Hendrix Experience: „Castles Made Of Sand“

 

Am 27. November 1942 als John Allen Hendrix in Seattle geboren (später in James Marshall „Jimi“ Hendrix umbenannt), begeisterte sich der jugendliche Jimi, der teils negroider, teils indianischer Herkunft war, für den Rock’n’Roll von Elvis Presley und Little Richard; letzteren sollte er später auf Tourneen als Gitarrist begleiten. Seine erste Gitarre erhielt Jimi mit 15 Jahren, nachdem er zwei Jahre zuvor schon Ukulele zu spielen gelernt hatte. Seine ersten Bands hießen The Velvetones und The Rocking Kings.

Populär wurde Jimi Hendrix durch seine spektakulären, zum Teil wüsten Bühnenshows. Beim Monterey Pop Festival 1967 verbrannte er seine Gitarre auf offener Bühne, ein andermal „zertrümmerte er sein Instrument an einer Lautsprecherbox oder trampelte darauf herum“. In Woodstock 1969 zerfetzte er mit Rückkopplungen, Heul- und Splitterklängen die US-amerikanische Nationalhymne als Demonstration gegen den Vietnam-Krieg. Sein frühes Image vom „wilden schwarzen Mann“, der seine Gitarre mit den Zähnen spielt oder wie ein Maschinengewehr einsetzt und der – wie sein Song-Held im Titel „Hey Joe“ – mit der Knarre in der Hand seine Wut und Eifersucht mörderisch auslebt, dieses fatale Image, das mit seiner Persönlichkeit nichts zu tun hatte, wurde er lange nicht los.

Den Geistern, die er selbst gerufen hatte und allen Image-Zuschreibungen, die man ihm verpasst hatte, versuchte er zu entfliehen und suchte nach neuen musikalischen Ausdrucksformen und künstlerischen Herausforderungen.
Doch im Sommer 1970 erlebte er eine persönliche Krise, schien ausgebrannt, vom Starruhm überfordert, und: vom Business ausgelaugt und ausgebeutet zu sein.
Am 18. September 1970 hatte er zu viel Alkohol getrunken und zu viele Schlaftabletten eingenommen und war an seinem Erbrochenen erstickt.
In seinem berühmten Song vom Sommer 1967 „The Wind Cries Mary“ heißt es im Text: „ Die Verkehrsampeln schalten morgen auf Blau und die Einsamkeit wirft Schatten auf mein Bett. Das kleine Eiland segelt flussabwärts und das gelebte Leben ist tot. Und der Wind schreit Mary.“

 

The Jimi Hendrix Experience: „The Wind Cries Mary“

 

Jimi Hendrix hinterließ „ein klangliches Manifest, mit dem er die Musikgeschichte bereicherte. Seine extravagante Ausstrahlung, die den Himmel erleuchtete, und ein Leben, das permanent Grenzen überschritt, sind zur Legende geworden“ (Lenny Kaye, Gitarrist der Patti Smith Group).

Die Legende lebt - und floriert. Obwohl zu seinen Lebzeiten nur 3 offizielle Studio-Alben erschienen sind, zählt eine Internetplattform aktuell 672 verschiedene Hendrix-Veröffentlichungen auf, darunter unzählige, qualitativ überwiegend zweifelhafte Livemitschnitte, die nach 1971 veröffentlicht wurden. Aktuell zu seinem 80. Geburtstag erschien nun am 18. November 2022 offiziell der Livemitschnitt des Konzertes „Jimi Hendrix Experience: Los Angeles Forum - April 26, 1969“, klanglich restauriert und neu abgemischt vom langjährigem Hendrix-Tontechniker Eddie Kramer. Das Vorwort stammt vom ZZ Top-Gitarristen Billy Gibbons, der das Konzert hautnah miterlebt hatte.
Die Jimi Hendrix Experience in der Originalbesetzung mit Mitch Mitchell am Schlagzeug und Noel Redding am Bass präsentierte sich an diem Abend in guter Verfassung.

Hendrix, der es längst leid war, allabendlich seine Greatest Hits abzuspulen, zeigte sich spielfreudig in ausufernden Improvisationen, wie etwa im Song „I Don’t Live Today“ - erstveröffentlicht im Debütalbum „Are You Experienced“ vom Mai 1967, damals in einer Länge von 3:48 eingespielt. Die Livefassung vom 26.04.1969 ist fast doppelt so lang.

 

The Jimi Hendrix Experience: „I Don’t Live Today“ - live

 

„Werde ich morgen noch leben? Ich kann es nicht sagen. Aber ich weiß verdammt gut, dass ich heute nicht lebe. In mein Fenster scheint keine Sonne. Ich fühle mich so, als lebte ich auf dem Grund eines Grabes,“ dies sang Jimi Hendrix im Song „I Don’t Live Today“ aus seinem Debütalbum von 1967.
Nur 3 Studioalben und vier Jahre Konzertaktivitäten reichten aus, um ihn unsterblich zu machen und zum Mythos zu überhöhen. Jimi Hendrix gilt bis heute als genialer Musiker, als der innovativste und einflussreichste Gitarrist der Rockgeschichte, als beeindruckender Songschreiber, charaktervoller Sänger und charismatischer Performer. Der Nachhall, den seine musikalischen Meilensteine der Jahre 1967 bis 1970 auslösten, ist bis heute nicht verklungen. Davon kündet nicht nur das gerade neu veröffentlichte Live-Album „Los Angeles Forum - April 26, 1969“ sondern auch der neue biografische Bildband „JIMI“, herausgegeben von Janie Hendrix, der Schwester von Jimi, und dem Biografen und Hendrix-Archivar John McDermott. Das Buch „JIMI“ erscheint zum 80. Geburtstag von Jimi Hendrix.
In den Textbeiträgen des Buches geht es auch um die Kernbotschaften des Songschreibers Hendrix, die nicht immer verständlich, oft verklausuliert formuliert waren.
Klar verständlich ist der Text seines Songs „Message To Love“, dessen erste Versionen Ende 1969 entstanden. Am 20. Januar 1970 wurde dann die endgültige Fassung im Record Plant in New York eingespielt - mit Buddy Miles am Schlagzeug und Billy Cox am Bass, seiner damaligen kurzlebigen „Band Of Gypsies“, unterstützt von Background-Sängerinnen. Im Song „Message To Love“ singt Jimi Hendrix: „Ich reise mit der Geschwindigkeit eines wiedergeborenen Mannes. Ich habe eine Menge Liebe zu geben. Mit den Spiegeln in meiner Hand sende ich eine Botschaft der Liebe.

 

Jimi Hendrix: „Message To Love“

 

Der Song „Message To Love“ erschien postum im Album „Crash Landing“ von 1975 und auf CD 1995 im Album „Voodoo Soup“.

Kaum zu glauben aber wahr, mit Deutschland verbinden sich zwei wichtige Daten im Leben von Jimi Hendrix.
Mit seiner Band in Trio-Besetzung, der Jimi Hendrix Experience, hatte er eines seiner allerersten Engagements in Europa vom 8. bis 11. November 1966 im Münchener Club Big Apple. Und auch sein letzter Festival-Auftritt – 12 Tage vor seinem Tod – fand ebenfalls in Deutschland statt, auf der Ostseeinsel Fehmarn, am 6. September 1970 beim chaotischen Open Air-Love & Peace-Festival am Flüggerstrand von Fehmarn.
An den großen Festivals, auf denen Jimi Hendrix in den drei Jahren seiner gloriosen Zeit auftrat, lässt sich die Entwicklungskurve seiner künstlerischen Kraft und der Wirkung seiner Bühnenauftritte recht gut darstellen.

Das Fehmarn-Festival ist der Tiefpunkt seiner Karriere. Von einem Teil des Publikums wird er ausgebuht und ausgepfiffen. Und er reagiert mit dem legendären Spruch zum Publikum: „Ich scheiß’ drauf, ob ihr buht oder nicht, solange ihr es in der richtigen Tonart tut“.
Ganz anders beim ersten großen Festival seiner Karriere drei Jahre zuvor, dem Monterey International Pop Music Festival, bei dem die Jimi Hendrix Experience am 18. Juni 1967 auftrat und enthusiastisch gefeiert wurde. Zwei Jahre später beim Woodstock-Festival im August 1969 erlebt Jimi Hendrix den Zenit seiner Karriere. Fünf Monate später offenbaren sich erste Risse in der bislang fast makellosen Erfolgsgeschichte. Beim „Winter Festival for Peace“, einem Benefizkonzert gegen den Vietnamkrieg am 28. Januar 1970 im New Yorker Madison Square Garden schluckt Jimi Hendrix einen mies verpanschten LSD-Cocktail, hat einen Horror-Trip und verlässt nach zwei Songs schwankend die Bühne. Das Publikum tobt vor Wut. Beim Atlanta International Pop Festival im Juli 1970 liefert Hendrix vor 200.000 Festivalbesuchern wieder einen guten Auftritt ab. Doch schon zwei Wochen später beim New York Pop Festival wirkt er müde und ausgelaugt. Dann folgt Ende August auf einer kleinen britischen Insel das von den Besucherzahlen her größte europäische Open Air jener Zeit, das Isle Of Wight-Festival vor ca. 600.000 Besuchern. Jimi Hendrix geht mit vollem Engagement in seinen Auftritt, er kämpft mit seiner Gitarre, verausgabt sich und scheint doch leer, wirkt ausgepumpt und uninspiriert. Dazu später mehr.

 

Jimi Hendrix 1967 Foto: -2.A.-Vente-VPRO-CC-BY-SA-3.0 httpscreativecommons.orglicensesby sa3.0-via-Wikimedia-Commons)

 

Dann folgt am 4. September, das von Lippmann & Rau organisierte Eintages-Festival „Super-Concert 70“ in der Berliner Deutschlandhalle mit den Vorgruppen Canned Heat, Procol Harum und TenYears After. Alvin Lee, der Speed-Gitarrist von Ten Years After demonstriert unmittelbar vor dem Auftritt von Jimi Hendrix seine Ambitionen auf den Titel des Geschwindigkeitsweltmeisters am Gitarrengriffbrett. Hendrix lässt sich nicht auf den Hahnenkampf ein, liefert einen soliden Auftritt ohne Showhöhepunkte ab. Doch er wirkt müde, manchmal gar leicht fahrig, was mit einzelnen Pfiffen quittiert wird.
Tags drauf am 5. September soll Jimi Hendrix in Fehmarn auftreten. Dort stürmt es wie wild, die Stimmung ist aggressiv und Jimi Hendrix sagt kurz vor seinem Auftritt ab. Er fühlt sich nicht in der Lage, das Konzert durchzustehen. Das Publikum ist wütend. Dass es nicht zu Tumulten kommt, liegt am Versprechen, das Alexis Korner, der Ansager des Festivals, dem aufgebrachten Publikum gibt, Jimi Hendrix werde am Folgetag auftreten.

 

Jimi Hendrix, beim Fehmarn-Festival 06.09.1970 (Foto-Detlef-Hansen-wikimedia-commons)

 

Am Sonntag dem 6. September betritt die Jimi Hendrix Experience tatsächlich die Bühne und wird unfreundlich empfangen. Ein Großteil des Publikums ist noch immer wütend, schreit in Sprechchören „Go Home“. Hendrix versucht, mit erhöhter Lautstärke gegen die Schreihälse anzuspielen. Doch die „Go Home“-Rufe wollen nicht verstummen. Hendrix wird böse und zischt ins Mikrofon: „Ich hätte euch besser vergessen sollen, ihr Motherfucker!“ Nach einem verkürzten Set verlässt er ohne Zugabe die Bühne.
„Was anschließend passiert, ist tagelang Gegenstand der Boulevardpresse: Das Festival in Fehmarn endet mit unglaublichem Krawall, kulminiert in Zerstörungswut, Brandstiftung und Schlägereien. Man gibt Jimi Hendrix die Schuld.“ (Zitat aus der Jimi Hendrix-Biografie von Corinne Ulrich)
Beim sturmgepeitschten, chaotisch organisierten Fehmarn-Festival spielte Jimi Hendrix unter anderem auch seinen alten Blues „Red House“ aus dem Debütalbum „Are You Experienced“

 

Jimi Hendrix Experience: „Red House“

 

Ein typischer langsamer 12-Takte-Blues, wie man ihn so zitathaft nicht oft bei Jimi Hendrix hörte. Seine Gitarrensoli sind vorzüglich gelungen und gehen über die typische Bluesgitarrenarbeit weit hinaus. Der Text dieses von Hendrix geschriebenen Blues-Titels „Red House“ ist bester schwarzer Humor. Nach etwa neunundneunzigeinhalb Tagen Unterwegs-sein kommt er mal wieder nach Hause zurück und stellt fest, dass sein Schlüssel nicht mehr passt. Und er hat das unangenehme Gefühl, dass sein Baby entweder hier nicht mehr wohnt, oder ihn nicht mehr ins Haus reinlassen will. Seine Reaktion: na gut, wenn sein Baby ihn nicht mehr liebt, dann gibt’s ja immer noch ihre Schwester.
Der Blues „Red House“ war einer der ersten Songs, den Hendrix mit seiner Experience Ende 1966 für das Debütalbum „Are You Experienced“ aufnahm, das im Mai 1967 auf den Markt kam und bis auf Platz 2 der britischen Charts kletterte. Die Experten waren sich damals einig, ein Album wie dieses, das stilistisch Blues mit Jazz und psychedelischem Rock mischt, das gab es bislang noch nicht. Und die Klasse, Reife und unvergleichliche Spieltechnik des Gitarristen Hendrix toppte alles, was man bislang kannte.

Dem neuen Star am Rock-Himmel standen plötzlich alle Türen offen. Alle rissen sich um Jimi Hendrix, alle machten ihm große Versprechungen, vor allem die Businessleute, seine Manager und die Konzertveranstalter. Der unerfahrene 24-jährige Jimi Hendrix war vertrauensselig, glaubte alles, unterschrieb, was man ihm vorlegte und dachte, dass jetzt für ihn alles bestens läuft: genug Geld auf dem Konto, gute Studios, wo er in Ruhe seine Platten aufnehmen und seine Klangvorstellungen realisieren kann, viele gute Konzerte, aber auch nicht zu viele, denn kreative Pausen müssen sein. Doch es kam völlig anders: er wurde ausgebeutet und betrogen, und statt der erhofften entspannten Aufnahmen im Studio, erlebte er Zeitdruck, Hektik und aufnahmetechnische Mängel. Zwei Jahre nach seinem Karrierestart saß ein frustrierter Hendrix in einem Radiostudio in New York, war desillusioniert und enttäuscht und machte seinem Ärger dem Interviewer gegenüber Luft. Auf die Frage, warum die neue Single „The Burning Of The Midnight Lamp“ keine gute Platzierung in den Charts erreichte, sagte Hendrix, der Endmix sei grottenschlecht und habe nichts mit seiner Sound-Vorstellung zu tun. Auf die Zwischenfrage, ob er mit der Aufnahmetechnik grundsätzlich zufrieden sei, verneinte Jimi Hendrix vehement. Für ihn klang speziell „The Burning Of The Midnight Lamp“ letztlich eindimensional, obwohl er selbst mit seiner Gitarre vieles an neuen Klangdimensionen erzeugt habe. (US-Radio-Interview Ende 1969)

 

Jimi Hendrix: „The Burning Of The Midnight Lamp“

 

Im Juli 1967 nahm Jimi Hendrix mit seinen Experience-Mitmusikern Noel Redding, Bass und Mitch Mitchell, Schlagzeug den Song „The Burning Of The Midnight Lamp“ auf, als Single veröffentlicht im August 1967 und innerhalb des Albums „Electric Ladyland im August 1968 erneut veröffentlicht. Das herausstechende Klang-Merkmal des Songs war die erstmalige Verwendung des Wah-Wah-Pedals, dessen Sound von da an immer mit Jimi Hendrix assoziiert blieb.
Der Songtext formuliert eines der Hauptthemen in seinen Songs: Melancholie und Einsamkeit. Die ersten Zeilen lauten: „Der Morgen ist tot, so auch der restliche Tag. Hier gibt es nichts, was mir begegnen könnte, außer dem Mond. Meine Einsamkeit fühle ich den ganzen Tag. Es ist mehr als genug, um einen Mann dazu zu bringen, sich selbst und alles wegzuwerfen“.
Von Einsamkeit, ja sogar von einer tiefen Lebensmüdigkeit und Verzweiflung handelte schon der Song mit dem sprechenden Titel „Manic Depression“ aus dem Debütalbum der Experience.
Auch wenn es im Text mehr um eine romantische Niedergeschlagenheit geht als um eine manische Depression im klinischen psychologischen Sinne, beschreiben die Textformulierungen doch eine zutiefst frustrierende Erfahrung. Da heißt es: „Die Frau ist so willig, aber alle Süße ist vorbei. Man liebt sich, man bricht aus, es ist immer dasselbe, wenn es vorbei ist“. Ob es hier um Sex mit einem Groupie geht, oder um eine andere flüchtige Romanze, die Traurigkeit und Leere nach dem Liebesakt ist eine weitere Darstellungsform der tiefen, geradezu existenziellen Melancholie, die aus so vielen Texten von Jimi Hendrix spricht.

Musikalisch ist „Manic Depression“ eine seltene Stilmixtur aus Jazzwalzer, Hardrock und Bluesschema. Im Schlussrefrain heißt es als erhoffte Rettung vor seelenlosem Sex: „Musik süße Musik, ich wollte, ich könnte dich liebkosen und küssen“. Bei manchen seiner Shows kündigte er den Song mit der provozierenden Bemerkung an, er würde lieber mit der Musik schlafen als mit immer derselben langweiligen Frau.

 

The Jimi Hendrix Experience. „Manic Depression“

 

Jimi Hendrix beschreibt sich, als Ich-Erzähler, im Song „Manic Depression“ von 1967 als deprimiert, weil im seelenlosen Sex kein Glück zu finden ist. Zu diesem Zeitpunkt war er aber noch vital und psychisch stabil. Doch zwei Jahre später war er durch Drogenmissbrauch und unentwegtes kräftezehrendes Touren ohne Pause gesundheitlich angeschlagen und vom Business frustriert. Doch Pläne hatte er noch immer genug - und von der Weiterentwicklung seiner Musik war er nach wie vor wie besessen. Nach „Electric Ladyland“ wollte er ein weiteres Doppelalbum veröffentlichen, weil er an längeren Stücken arbeitete. Doch seine Plattenfirma hielt nicht viel davon. Sie wünschte sich ein populär ausgerichtetes Hitalbum mit prägnanten Titeln für die Charts. In diese Richtung wollte auch sein Management ihn drängen, weil dann weitere lukrative Tourneen zu erwarten waren.

Doch Jimi Hendrix hatte völlig anderes im Sinn. Auf die Frage des Interviewers, wie lange denn seine neuen Stücke seien, antworte Jimi Hendrix Ende 1969: „Das hängt davon ab, um welche Art von Song es sich handelt. Ob ein Song drei oder vier Teile hat, oder auch mehr. Ich habe einen Song geschrieben mit dem Titel „Eyes Of Imagination“, der ist 14 Minuten lang. Und jeder zweite Satz erzählt eine völlig neue Geschichte, es geht um Imagination. Du hörst erst die Schreie eines neugeborenen Babys und danach Schüsse im Hintergrund. Es geht um die Vorstellungskraft und ständig wird eine neue Geschichte erzählt. Ich habe so viele Songs in der Art geschrieben, die wir noch nicht ausgearbeitet haben und wahrscheinlich nie aufnehmen werden.“
Dies sagte Jimi Hendrix und ließ offen, warum seine vielen Songideen nicht zu Ende gebracht wurden.

Aus den Reihen der Musiker und Tontechniker, mit denen er damals zusammegearbeitet hatte, war zu hören, Hendrix hätte sich zum damaligen Zeitpunkt Ende 1969, Anfang 1970 in einem kreativen Tief befunden. Trotz etlicher guter Songideen hätte er keine klare Richtung mehr gesehen, habe vieles angefangen, doch nicht zu Ende gebracht und hätte seine Klangvorstellungen nicht mal seinem alten Freund und engsten Studiovertrauten Eddie Kramer vermitteln können. Er sei ausgebrannt, verunsichert und musikalisch ziellos gewesen.
Doch so völlig uninspiriert kann Hendrix auch in dieser Phase nicht gewesen sein. Schließlich nahm er am 18. Dezember 1969 das großartige Stück „Ezy Rider“ auf, angeregt vom Biker-Film „Easy Rider“ mit Dennis Hopper und Peter Fonda, den Hendrix im Spätherbst ’69 gesehen hatte – und in dessen Soundtrack übrigens auch Musik der Jimi Hendrix Experience („If 6 was 9“) zu hören war.

Das Grundthema des späteren Songs „Ezy Rider“ stammte schon aus dem Dezember 1967. Doch der Text und das Arrangement entstanden erst Ende 1969. Jimi Hendrix arbeitete am Arrangement wie ein Besessener und schichtete insgesamt 8 Gitarrenspuren übereinander. Der Song „Ezy Rider“ erschien schließlich im Februar 1971 innerhalb des ersten postum veröffentlichten Hendrix-Album „The Cry Of Love“

 

Jimi Hendrix: „Ezy Rider“

 

Ein in sich geschlossener, majestätischer Track, der für alles steht, was die Klasse von Jimi Hendrix ausmacht, schrieb der Melody Maker über den Song „Ezy Rider“, der im Dezember 1969 eingespielt wurde: mit Buddy Miles am Schlagzeug, Billy Cox am Bass und mit Steve Winwood und Chris Wood von Traffic als Background-Sänger. Doch im Zentrum der Songaufnahme stand natürlich die großartige Gitarrenarbeit von Jimi Hendrix, diesmal sogar mehrlagig, fast orchestral übereinander geschichtet.
Dass die Gitarren-Magie von Jimi Hendrix auch von flüchtiger Natur sein konnte, gegen Ende seines Lebens sich sogar fast gegen seinen Erzeuger wenden konnte, das beschrieb der holländische Rock-Autor und Journalist Roel Bentz van den Berg brillant und  mit bildhafter Sprache in seinem Buch „Die Luftgitarre.“

 

Jimi Hendrix, 1970, Isle of Wight-Festival (Foto: Carl van der Walle)

Als Jimi Hendrix drei Jahre nach seinem glorreichen Durchbruch beim Festival von Monterey und ein Jahr nach seinem Triumph von Woodstock „auf der anderen Seite des Ozeans die Bühne des von Sturzregen und den letzten Zuckungen des Hippie-Zeitalters geplagten Isle-of Wight-Festivals betritt, scheint er um mindestens 20 Jahre gealtert. ... Seine Wangen eingefallen, seine Augen glanzlos, Haut und Haare wie aschgrau – dagegen wirkt sein grellfarbiger, psychedelischer Spielanzug wie der reinste Hohn. Er sieht wie ein körperlich und geistig verbrauchter Mann aus. Und das kommt nicht nur von den Drogen, die ihn gezwungen haben auf eine beschleunigte Rückzahlung der von ihnen verliehenen Hypothek auf das Leben. Das wirkliche Drama seines Auftritts beim Isle-of-Wight-Festival, so wie es in der Filmdokumentation festgehalten wurde, besteht darin, dass Hendrix’ Gitarre ihn im Stich lässt. War sie in Monterey noch wie Wachs in seinen Händen, sklavisch bereit, ihm auch den kleinsten Wunsch zu erfüllen, so verrät sie ihn jetzt wie eine eifersüchtige Geliebte. ...
Alles klingt verformt , wie aus dem Gleichgewicht – ähnlich einem Radio, dessen Frequenz nicht richtig eingestellt ist, so dass ständig auch andere Sender zu hören sind, auf denen aufgeregte Stimmen in unverständlichen Sprachen von unbegreiflichen Ereignissen berichten. Immer stärker gewinnt man den Eindruck, dass seine Gitarre anfängt, ihm zu widersprechen. Wie ein Action-Painter rennt Hendrix auf der Isle Of Wight mit seiner Stratocaster an einer Reihe großer Leinwände vorbei, auf die er – mit einem zunehmend verbissener werdenden Zug um den Mund – seine psychedelischen Landschaften, Mona Lisas, tieffliegende Sturzkampfbomber, vielfarbigen Kometenregen, mit Vollgas durch die Wüste rasenden Autos und immer wütender werdenden, zähneknirschenden, ekstatischen Höhepunkte klatscht. Aber so sehr er sich auch ins Zeug legt, er schafft es nicht, der Zusammenhang fehlt: Die majestätische Elektrische Kathedrale, die Hendrix mit Hilfe seines Gitarrengeistes errichtet hatte, ist dabei, über seinem Kopf zusammenzustürzen. ...
Und dann ist alles vorbei. Der Schwanengesang des Jimi Hendrix endet mit einer resignierenden Geste. ... Nach dem letzten Song lässt er, beinahe krank vor lauter Ekel, seine Gitarre aus der Hand gleiten, lässt sie auf den Boden fallen und geht, ohne sie noch eines einzigen Blickes zu würdigen, von der Bühne. Die metaphysische Leier, seine Gitarre, mit der es ihm gelungen war, die Welt – von Vietnam bis zum Summer Of Love, von Afrika bis Black Power – in einen Mahlstrom aus Klang zu verwandeln, war zu einem toten, gefärbten Stück Holz geworden.“ Zitatende
Im Dokumentarfilm vom Isle Of Wight-Festival kann man diese Szene genauso sehen. Am Ende des Songs „In From The Storm“ lässt er seine Stratocaster wie achtlos auf den Bühnenboden fallen und geht , ohne sich umzudrehen. Der Song „In From The Storm“ erschien postum 1971 im Album „The Cry Of Love“

 

Jimi Hendrix: „In From The Storm“

 

„Ich bin vom Sturm zurückgekommen, ich habe gelitten, es war so kalt und einsam“ - so heißt es im Text des Songs „In From The Storm“. Der Song gehörte zum Songrepertoire der Filmproduktion „The Rainbow Bridge“, aufgenommen in Maui, Hawaii im Juli 1970. Im Mittelpunkt des Films sollte die Dokumentation eines Jimi Hendrix-Konzertes stehen, aufgenommen in atemberaubender landschaftlicher Umgebung vor der Kulisse des Olawalu-Vulkans. Aber der massive Drogengebrauch bei fast allen Beteiligten des Filmprojektes führte zu diversen technischen Problemen mit dem Ergebnis, dass nur 17 Minuten des Hendrix-Konzertes technisch für den Film verwertbar waren. Im Text des schönsten Songs, den Jimi Hendrix für den Film geschrieben hatte, und in dem er, wie schon so oft vorher mit einem Engel, einem Wesen aus fernen Galaxien Kontakt aufnimmt. Im Text heißt es:
„'Hey Baby, woher kommst du?' Sie sah mich an und lächelte, und schaute ins Leere.
Und sie sagte, 'Ich komme aus dem Land der aufgehenden Sonne'
Und ich sagte, 'Hey, Baby, wohin willst du gehen'
Dann sagte sie: ‚Ich werde Seelenfrieden verbreiten. Und eine ganze Menge Liebe für dich und dich.’ - ‚Hey Mädchen, ich würde gerne mitkommen’.
„Hey Baby (New Rising Sun)" aus dem Album „Rainbow Bridge“, postum veröffentlicht im Oktober 1971.

 

 

Bei einer Pressekonferenz von 1969 wurde Jimi Hendrix gefragt, wenn er aufgefordert würde, eine grundsätzliche Botschaft an sein amerikanisches Publikum zu richten, wie würde diese Botschaft lauten? Jimi Hendrix zögerte mit seiner Antwort, es war zu spüren, dass er sich über diese Frage nicht gerade freute.
„Ich möchte die Leute antörnen, auf natürliche Weise. Letztlich möchte ich unterhalten. Und im Grunde spiele ich für mich selbst und für alle, die zuhören wollen. Und wenn sie reagieren, dann gibt mir das Energie, um voranzukommen. Es ist eine Form von Kommunikation und der Versuch, Übereinstimmung mit dem Publikum herzustellen. Harmonischer Einklang ist ein wichtiger Teil davon. Ich denke nicht in negativen Kategorien, denn das würde zu viel Raum in deinem Bewusstsein okkupieren. Und die meisten nutzen nur ein Zehntel ihrer Gehirnkapazität. Da ist also noch viel Platz für positive Wege. Meine persönliche Philosophie, der Teil meines Lebens, Teil von mir selbst ist die Musik. Und die Auswirkung auf das Publikum ist mehr eine hypnotische Art als eine des Wachzustands. Und wir predigen nicht Gewalt. Da ist eine Form von Unschuld in den Songs. Und sie bieten eine Lösung am Ende.“
Die Lösung am Ende war bei Jimi Hendrix letztlich auch immer wieder die Liebe. „Ich treibe auf einem Meer vergessener Tränen auf einem Rettungsboot, das auf dem Weg zu deiner Liebe ist, auf dem Weg nach Hause“, so heißt es im Text des Songs „Drifting“ aus dem Album „First Rays Of The New Rising Sun“, veröffentlicht im April 1997

 

 

Interessanterweise hat man immer nur den innovativen Gitarristen und Klangmagier Jimi Hendrix herausgestellt – und zweifellos liegt auch in seiner spiel- und klangtechnischen Erneuerung der Rockgitarre seine größte Bedeutung. Aber die Qualität seiner Songkompositionen wurde nur selten gewürdigt und seine Songtexte sind erst recht meist unbeachtet geblieben. Seine Plattenfirma hat auch niemals die Songtexte auf einer seiner Alben abgedruckt.

Aber wer sich die Mühe macht, sich auch mit seinen Songlyrics zu beschäftigen wird feststellen, dass seine Songpoesie lesens- und bedenkenswert ist. Und dass aus den Botschaften seiner Texte vieles herauszuhören ist, was die Persönlichkeit des Songschreibers Jimi Hendrix, seine Schwierigkeiten, Sehnsüchte und Hoffnungen und auch sein frühes Ende zu erhellen vermag.

Die textlichen Fantasien von Jimi Hendrix verließen meist den Boden der Realität und peilten einen unbestimmten Fixstern in der Galaxis an. „Up From The Skies“, von hoch oben, aus den Sphären des Himmels holte er sich seine Inspirationen, so auch für den Song „Angel“, der 1971 im Album „Cry Of Love“ erschien: „Angel kam gestern vom Himmel herunter. Sie bleibt bei mir, solange bis ich befreit bin. Und sie erzählte mir gestern eine Geschichte über die tiefe Liebe zwischen dem Mond und dem tiefen blauen Meer. Dann breitete sie ihre Flügel hoch über mir aus und sagte, dass sie morgen wieder kommen würde. Und ich sagte: Flieg weiter mein süßer Engel, flieg weiter durch den Himmel, morgen werde ich an deiner Seite sein."

(In diesen Blog-Text flossen ein: Ausschnitte aus Manuskripten meiner Radiosendungen über Jimi Hendrix. copyright: Volker Rebell)

 

Jimi Hendrix „Angel“

 

zum 80. Geburtstag von Jimi Hendrix erschienen:

Live-Album:
Jimi Hendrix Experience: Los Angeles Forum - April 26, 1969 Label: Sony, Erscheinungstermin 18.11.2022
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Buch:
Jimi: Official 80th Birthday Edition, von Janie Hendrix und John McDermott
herausgegeben von Chronicle Chroma. Erscheinungstermin: 24.11.2022

Jimi Hendrix playing Sound_City.(Foto: Unknown author CC0-via-Wikimedia-Commons)