Der Riff-Master gibt den Ton an bei den Stones, seit 60 Jahren …
Er hat das verknittertste Gesicht der aktuellen Rockszene und wahrscheinlich gehen die schärfsten Gitarren-Riffs aller Zeiten auf sein Konto. Am 18. Dezember 2023 kann Keith Richards seinen 80. Geburtstag feiern – wenn er durchhält. Dass er nach jahrelangen Drogenexzessen überhaupt noch am Leben ist, darüber wundert er sich nicht zuletzt auch selbst.
Als Co-Autor ist Keith Richards neben Mick Jagger, der bereits im Juli 80 wurde, für die großen Rock-Klassiker der Rolling Stones verantwortlich.
Das Songschreiber-Duo Jagger-Richards gilt neben Lennon-McCartney als das erfolgreichste und wichtigste Autorengespann der Pop-Geschichte.
Im Oktober 2010 erschien unter dem Titel „Life“ seine viel diskutierte Autobiografie, für die er zwei Literaturpreise erhielt, darunter den renommierten Norman-Mailer-Award. Die Laudatio hielt übrigens Bill Clinton. Auf über 700 Seiten berichtet er vor allem über seine Leidenschaft „Rock’n’Roll“, erzählt aber auch viele Anekdoten, z.B. über eine Kindheitsliebe, seine weiße Maus Gladys, die von seiner Mutter gemeuchelt wurde, weil „das Scheißvieh die ganze Wohnung vollpisst“, über seine immerwährende Hassliebe zu Mick Jagger, über dessen Macken und die Größe (oder Kleine) seines Gemächts und über die Zeitungsenten, die sie bewusst gestreut hätten. So war er z.B. auf Fidschi nicht von einer Palme gefallen, sondern lediglich auf einem Baumstumpf ausgerutscht – was ungleich weniger spektakulär, aber auch weniger witzig klingt.
Über die Ausdauer und Zählebigkeit des Stones-Gitarristen sagte Ozzy Osbourne: „Es gibt nur zwei Wesen, die einen Atomschlag überleben würden: Kakerlaken und Keith Richards.“ Das war zwar witzig gemeint, klingt aber ziemlich despektierlich. Da ist das folgende Zitat von Marianne Faithfull, der frühen Jagger-Muse, zu Keiths 70. Geburtstag deutlich besser geeignet: „Ich fürchte, ich habe den falschen Rolling Stone gedatet – Keith ist viel wärmer und herzlicher als Mick.“
Riffs für die Rock-Geschichte
Er gilt als der Riff-Master des Rock, als Seele der Rolling Stones und als einer der wenigen Überlebenden der Ära des exzessiven Drogenkonsums in den 60er und 70er Jahren. Keith Richards, der am 18. Dezember 1943 in Dartford in der Grafschaft Kent geboren wurde , ist gemeinsam mit seinem Songschreiber-Partner Mick Jagger, der übrigens ebenfalls in Dartford geboren wurde, einer der erfolgreichsten Hitlieferanten der Rockgeschichte, wird als Gitarrist hochgeschätzt, weniger wegen seiner solistischen Fähigkeiten, sondern vor allem als erfindungsreicher oder besser variationsfreudiger Schöpfer von Gitarren-Riffs und Licks. Auch als Sänger tritt er immer mal wieder in Erscheinung und überraschte sogar als Schauspieler in zwei Folgen der „Pirates of the Caribbean“-Saga „Fluch der Karibik“. Er spielte den Vater von Captain Jack Sparrow, alias Johnny Depp.
Für sein autobiografisches Buch „Life“ erhielt Keith Richards Auszeichnungen, aber die höchste Ehrung, die Sir Jagger schon zuteilwurde, steht noch aus. Doch Ritterschläge seien etwas für Kriecher, unkte er in Richtung Sir Jagger. Und man bräuchte ihm diese Ehrung erst gar nicht anzubieten, denn sie wüssten genau, wo sie sich das hineinstecken sollten. Keith Richards der beinharte Rocker, der letzte Aufrechte unter den popig abgeknickten, angepassten Rockstars, einer der letzten Rock-Millionäre, der noch im fortgeschrittenen Alter den lärmenden, schmutzigen Garagensound bevorzugt und es geradezu als Verrat am Rock’n’Roll ansehen würde, wenn er so etwas wie Multikulti-Worldmusic machen würde wie Mick Jagger mit seiner erfolglosen Gruppe Superheavy – oder wenn er gar mit klassischen Oratorien zu tun hätte wie Sir Paul McCartney.
Das Raubein als Crooner
Und doch kann der harte Rocker Richards auch anders, versteht es sogar als Sänger zu croonen, also wie ein sentimentaler Balladensänger einschmeichelnd zu singen. Man denke nur an den Stones-Titel „Slippin Away”, den Keith Richards schon auf dem Album „Steel Wheels” von 1989 sang, aber auch live während der großen Licks-Welttournee der Stones in den Jahren 2002 und 2003. Dass Keith Richards den Frontmann und Mister Rolling Stones schlechthin Mick Jagger vom Mikrofon verdrängt, das kommt nicht oft vor, doch immer wieder mal. Das aktuellste Beispiel für die seltene Credits-Angabe auf einem Stones-Albumcover „lead vocals: Keith Richards“ ist der Song „Tell Me Straight“ aus dem aktuellen Stones-Album „Hackney Diamonds“. Das populärste Beispiel dürfte der Song „Happy“ sein, den Keith Richards alleine geschrieben und stets auch alleine gesungen hat, ursprünglich 1972, im berühmten Stones-Doppel-Album „Exile on Mainstreet“, zu einem Zeitpunkt, als Keith Richards nicht unbedingt immer happy, sondern tief verstrickt in seine Heroin-Abhängigkeit war.
Zu den besonderen Live-Aufnahmen des Songs „Happy“ zählt die Fassung „Live from Central Park New York City“, die im Sommer 1999 aufgenommen wurde. Sheryl Crow hatte viele Gäste zu diesem Sommerkonzert nach New York eingeladen, darunter auch Keith Richards, der seinen Song „Happy“, gemeinsam mit Sheryl Crow sang.
Statt Virtuosität: Effektivität
Die Singerei beherrscht Keith Richards durchaus, aber seine Domäne ist natürlich sein unvergleichlicher Gitarrenstil, wobei er nicht unbedingt ein virtuoser Solist ist, sondern ein Spezialist für markante Gitarrenriffs und Licks. Man nennt ihn ja auch „The Human Riff“ oder auch The Riff-Master, weil er es wie kaum ein anderer versteht, ein paar Gitarrentöne oder -Akkorde zu einer knappen aber prägnanten Figur zusammenzufügen, die einem Song Gesicht und Gepräge geben. Inspirieren ließ er sich für seine Stones-Riffs von Bo Diddley, Muddy Waters und vor allem von Chuck Berry.
Als er 1986 bei der Aufnahme von Chuck Berry in die Rock’n’Roll Hall Of Fame die Laudatio zu halten hatte, sagte er, es falle ihm schwer, jemanden zu würdigen, bei dem er alles geklaut habe.
Die typischen Rock’n’Roll-Riffs von Chuck Berry mögen zwar für einige der frühen Riffs von Keith Richards Pate gestanden haben, doch die Chuck Berry-Riffs sind noch deutlich variationsärmer als die von Keith Richards. Das heißt, auch die Riffs von Keith Richards bewegen sich in einem begrenzten Raum von Ton- und Akkordfiguren. Aber bei einem Riff geht’s ja auch um den Signalcharakter, ums Aufhorchen, Anknipsen und Wiedererkennen. Und Keith Richards hat sicher etliche Riffs für die Ewigkeit in die Welt gesetzt.
Mit Riffs wie der 3-Ton-Figur aus „Satisfaction“ ist Keith Richards schon zu Lebzeiten unsterblich geworden. Und man darf von dem 80-jährigen noch einige knackige Gitarrenriffs künftig erwarten. Doch er versteht sich nicht nur auf Riffs der Marken hart wie ein Brett, donnernd wie ein Gewitter und ebenso cool wie groovend, er kann auch auf der Akustikgitarre einprägsame und schöne Gitarrenmotive entwickeln, „Angie“ aus dem Stones-Album „Goats Head Soup“ von 1973 ist dafür ein gutes Beispiel.
Die Kunst der Reduktion
Und das ist die besondere Kunst des Gitarristen Keith Richards: er spielt clevere Gitarrenfiguren, rockende Riffs und geschmackvolle Akkordmuster, das Posing des gniedelnden, fuddelnden, solistisch virtuos und rasend schnell losjazzenden Gitarreros ist seine Sache nicht. Er setzt seine Gitarre songdienlich ein, spielt atmosphärisch effektvoll und setzt bewusste Akzente – unvergleichlich etwa im Rock-Klassiker für die Ewigkeit „Jumpin Jack Flash“
„Wenn ich diesen ersten Riff in Jumpin Jack Flash spiele, passiert irgendwas in meinem Magen“, sagte Keith Richards in einem Zeitungs-Interview, „ein unglaubliches Hochgefühl, es lässt sich am besten mit einer Explosion vergleichen. Du springst einfach auf diesen Riff und er spielt DICH. Es ist das einzige Gefühl, das meiner Meinung nach dem Nirvana nahekommt“, so begeistert äußerte sich Keith Richards über diesen Song mit dem die Stones sich von ihrer psychedelischen Pop-Phase endgültig verabschiedet hatten und nun ein Manifest ihres neuen kraftvollen und wuchtigen rockbetonten Rhythm’n’Blues-Stils ablieferten. Sie waren wieder zu ihren aufmüpfigen, rebellischen Ursprüngen zurückgekehrt.
Nach Rauswurf Rebell für immer
In seiner Autobiografie Life benennt Keith Richards eine entscheidende Begebenheit in seinem jungen Leben, die ihn zu einem Rebellen gemacht hätte. Es war der Rauswurf aus dem Schulchor, nur weil er in den Stimmbruch gekommen war. Dies war auch sein Bruch mit den Autoritäten. Im Interview zur Buchveröffentlichung sagte er, das sei es gewesen, dass in ihm der Rebell geboren wurde. Er habe das als total unfair empfunden. Für diesen Chor habe er sich die Seele aus dem Leib gesungen, und dann das, einfach rausgekickt. Willkommen im Leben.
Und er fügte hinzu, er habe mit Autoritäten nichts zu tun, er habe die immer als überflüssig und ungerecht empfunden.
Kein Wunder, kam er doch mit den Autoritäten der Staatsgewalt massiv in Konflikt: 1978 wurde er wegen Heroin-Missbrauch zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Er kämpfte gegen seine Heroin-Abhängigkeit an, blieb aber lange Zeit gefährdet. Schon in den 60ern hatte er mit dem Heroin angefangen, in den 70ern war er einer der Rock-Junkies, mit deren Ableben jederzeit zu rechnen war. Erst mit Hilfe seiner Frau Patti Hansen, die er am 18. Dezember 1983, an seinem 40. Geburtstag heiratete, schaffte er es, seine Sucht zu überwinden, zumindest seine Heroin-Abhängigkeit. Von anderen Drogen wie Kokain und Alkohol mochte er allerdings nicht so recht lassen. Erst als er 2006 auf den Fidschi-Inseln (angeblich) von einer Palme gefallen war – tatsächlich war er auf einem glitschigen Ast ausgerutscht, was aber eine schwere Kopfverletzung nach sich zog, sodass ein Blutgerinnsel aus seinem Schädel operativ entfernt werden musste, erst dann schwor er den Drogen (angeblich) ab. Es sei ihm leichtgefallen, schrieb er in seinen Memoiren: „die Drogen sind meiner inzwischen wohl überdrüssig geworden.“
Karriere als Solo-Künstler? „Keith don’t go!“
Anders als Mick Jagger hatte Keith Richards nie vorgehabt eine Solokarriere zu starten. Doch als Mick Jagger sich von den Stones zurückzog, um Soloplatten zu veröffentlichen, probte auch Keith Richards immer mal wieder den Ausstieg, hatte eigene Bands, die „New Barbarians“ Ende der 70er Jahre und später Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre die X-Pensive Winos, mit denen er auch Konzerte gab.
„Keith Richards & The X-Pensive Winos Live At The Hollywood Palladium“ ist eines der Tondokumente, neben vier Solo-Platten, das belegt, dass auch Keith Richards musikalisch fremd gegangen ist. Weil zwischen Richards und Jagger eine Dauerfehde bestand, die immer wieder zu Streitereien und auch schwerwiegenden Zerwürfnissen führte, kam immer mal wieder das Gerücht auf, Keith Richards würde nun endgültig hinschmeißen. Deshalb schrieb der US-Gitarrist und Sänger Nils Lofgren die Song-Hommage „Keith Don’t Go“, wobei er zwar auch sein Ende bei den Stones meinte, vor allem aber die Gefahr der selbstzerstörerischen Heroin-Sucht. Im Text heißt es: „wir vermissen unseren Vater Jimi Hendrix, das Atmen fällt schwer mit diesem Verlust, doch noch haben wir dich Bruder, nagele dich nicht selbst ans Kreuz. Ich sehe wie du die Band anführst, du bringst den Drive in meine Seele, du sendest eine Botschaft an Millionen, Keith don’t go.“
Diese musikalische Liebeserklärung an Keith Richards von Nils Lofgren schien zu helfen. Er ging nicht, wird wohl auch bleiben bis er dereinst von der Rockbühne abberufen wird – und er hat offenbar noch immer Spaß daran, selbst die ältesten Kamellen wie „Satisfaction“ zu spielen, wie er es zur Veröffentlichung der DVD „Sweet Summer Sun Hyde Park Concert“ im Interview sagte:
„Ich versuche, das Denken zu vermeiden. Ich gehe auf die Bühne, nicht um zu denken, es geht um Instinkte und Gefühle. Und ich lass mich tragen von der Energie und dem Enthusiasmus des Publikums. Und ich habe ein sehr herzliches Gefühl für das Publikum, genauso wie die Leute ein herzliches Gefühl für mich haben und ich möchte ihnen noch den letzten Tropfen Schweiß schenken. Der letzte Song unserer Shows in diesen Tagen ist ‚Satisfaction‘, den die Band lange Zeit absolut nicht mehr spielen wollte, weil wir dachten, wir würden den Song auf der Bühne nicht mehr richtig hinbekommen. Außerdem war das immer eine komische Band, weil sie sich weigerte, ihre großen Hits zu spielen. Aber so sind wir halt. Doch so langsam haben wir uns damit angefreundet und jetzt ist es wie die Kirsche oben drauf. Es ist halt ein großer Song“, sagte Keith Richards. Und dass „Satisfaction“ bis heute ein Klassiker geblieben ist und zu den Alltime-Greatest gerechnet wird, liegt natürlich auch an dem simplen, aber markanten Gitarrenriff von Keith Richards.
Wenn das kein Beweis ist, dass ein Rockriff Volksmusik werden kann: Jedenfalls haben im Sommer 2013 die Konzertbesucher des „Sweet Summer Sun“-Hyde Park-Konzertes den berühmten Riff von „Satisfaction“ noch lange alleine bzw. gemeinsam weiter gesungen, nachdem die Stones bereits die Bühne verlassen hatten. Damit ist alles über die Bedeutung des Riffmasters Keith Richards gesagt.
Und was ist über sein Alter als Musiker zu sagen?
In seiner Rezension zum neuen Stones-Album „Hackney Diamonds“ lobte der britische Independent, das Gitarrenspiel von Keith Richards klinge „jung und vital“. Dieses ebenso junge wie vitale Klangphänomen darf auch für die angekündigte Stones-Tournee 2024 zu erwarten sein.
Volker Rebell
(Der überwiegende Teil des vorstehenden Textes wurde im Juni 2022 veröffentlicht, innerhalb des Buches „Time Is On My Side – The Rolling Stones 1982“, von Gerd Coordes, Olaf Boehme, Uli Kniep, Volker Rebell ISBN 9783753479354)