Bob Dylan – „Der Shakespeare des Pop“ – zum 80. Geburtstag

Bob Dylan (Photo-Graphic Art: Gerd Coordes)

Während einer Pressekonferenz im Dezember 1965 wurde Bob Dylan gefragt, ob er sich selbst mehr als Sänger oder als Poet verstehe. Seine Antwort: er sehe sich selbst als „Song- and Dance-Man“ – was man mit Unterhaltungskünstler, Troubadour oder fahrender Sänger übersetzen könnte.
Zum 80. Geburtstag des „Song- and Dance-Man“ – er wurde am 24. Mai 1941 in Duluth, Minnesota geboren – haben der Schauspieler Moritz Stoepel, der Cellist und Multiinstrumentalist Christopher Herrmann und ich im Auftrag DER FABRIK - Kulturwerk Frankfurt ein Video produziert, eine Hommage mit Dylan- Songs in deutscher Übersetzung – mit dem Hauptaugenmerk auf Dylans literarische, zeitgeschichtliche und poetisch-prägnante Texte und auf seine thematischen Botschaften.

Noch nie zuvor ist einem Songschreiber der Literaturnobelpreis zuerkannt worden. Hat Bob Dylan diese höchste Auszeichnung des globalen Literaturbetriebs verdient? Ist Bob Dylan ein poetisch hochbegabter Sänger und Songschreiber oder tatsächlich ein singender Literat? Oder anders gefragt, haben seine Songtexte die Qualität von Literatur, die das Votum des Nobelpreiskomitees rechtfertigen?
So lautete die Fragestellung unmittelbar nach bekannt werden der Literaturpreisverleihung. Aus den Reihen seiner Musikerkollegen und aus fast allen Bereichen der Popkultur kam die eindeutige Antwort: Aber ja!
Doch Bob Dylan ist nicht nur ein literarischer Songautor, er ist auch Maler und bildender Künstler, er malt Aquarelle und gestaltet Skulpturen aus Metallschrot, vor allem schweißt er verschnörkelte Eisentore aus Altmetall. Anlässlich einer Ausstellung der von ihm geschaffenen Tor-Skulpturen in London 2013 sagte er: „Tore gefallen mir wegen des negativen Raums, den sie gewähren lassen. ... Sie können geschlossen sein, aber gleichzeitig erlauben sie den Jahreszeiten und Brisen einzutreten und zu fließen. Sie können dich ausschließen oder einschließen. In gewisser Weise macht das aber keinen Unterschied.“ Dies bedenkend, hört man seinen folgenden Song „Trying To Get To Heaven“ von 1997 mit ganz anderen Ohren, denn im Refrain singt er: „I’ve been walking to the middle of nowhere, trying to get to heaven before they close the door“.

Vom Versuch noch in den Himmel zu kommen, bevor das Tor geschlossen wird, davon handelt dieser Song aus dem hoch gelobten Dylan-Album „Time Out Of Mind“ von 1997. In den Himmel der Hochkultur zu kommen, in den Olymp der Literatur aufzusteigen, das scheint ihn weniger zu interessieren. Das Tor zur Verleihung des Literaturnobelpreises hatte er zwar nicht zugeschlagen, aber hindurchgegangen durch die Tür zur Zeremonie in Stockholm war er nicht, wie wir wissen. Und wie war das nochmal mit seiner Dankesrede?

„Meine Damen und Herren, der Nobelpreis ist für mich eine außergewöhnliche Sache. Der Mann, der Sprengstoff erfunden hat, ehrt damit den Mann, der den Rock’ n' Roll erfunden hat. Deswegen würde ich normalerweise auch selbst kommen, aber ich will nicht.“ So beginnt Dylans Dankesrede zur Verleihung des Literaturnobelpreises, allerdings in der Ulkversion, die sich ein Satiriker von Deutschlandradio Kultur ausgedacht hatte. Tatsächlich schrieb Dylan in seiner Dankesrede dies: „Es tut mir leid, dass ich nicht persönlich bei euch sein kann, aber bitte wisst, dass ich auf jeden Fall im Geiste bei euch bin und mich geehrt fühle, so einen prestigeträchtigen Preis zu bekommen. ... Wenn mir jemals jemand gesagt hätte, dass ich auch nur die geringste Chance hätte, den Nobelpreis zu gewinnen, hätte ich gedacht, dass die Wahrscheinlichkeit etwa so groß wäre wie die, auf dem Mond zu stehen.“ Das klingt auch irgendwie nach Satire – aber der Joke des Radiomannes wirkt da ehrlicher: „normalerweise sollte er eigentlich kommen, aber er will halt nicht. Basta.“
Dylans Filmbiografie aus dem Jahre 2007 trägt den Titel „I’m Not There“. Sieben verschiedene Schauspieler verkörpern im Film den Mensch und Künstler Bob Dylan. Wie der Filmtitel es schon ausdrückt: er selbst spielt nicht mit, genau so wie in Stockholm bei der Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn. Der Hauptdarsteller verzichtete dankend auf seinen Auftritt.
Dylans verulkte Dankesrede endet mit den obligaten Danksagungen: „Danken möchte ich auch meinen Fans. Ich habe mal eine Platte mit Frank Sinatra Sachen gemacht. Mit meiner Stimme. Selbst die haben meine Fans gekauft. Dafür müssten sie eigentlich auch einen Preis bekommen.“
Seine selbst verfasste, kurze Dankesrede ließ er von der US-amerikanischen Botschafterin verlesen und statt seiner trat Patti Smith auf und sang bei der feierlichen Nobelpreisverleihung den klassischen Dylan-Song „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“, begleitet von einem Akustikgitarristen und einem dezent im Hintergrund sich haltenden Orchester. Mitten im Song kam Patti Smith ins Stocken, ihre Stimme versagte, sie musste unterbrechen und neu ansetzen und entschuldigte sich dafür beim Publikum und beim Dirigenten mit den Worten: sie sei so nervös.

Wann ist ein Fehler ein Fehler, fragte man sich in den sozialen Medien, wo über das Missgeschick von Patti Smith diskutiert wurde. Irgendwie war ihr Aussetzer passend. Der Poptheoretiker Thomas Hecken sagte, letztlich sei die Szene symbolisch schwer aufgeladen gewesen, über dem Auditorium habe die Frage geschwebt, ob der Fehler etwas mit dem Fehlen von Bob Dylan zu tun habe. Eine perfekte Inszenierung sei gescheitert – und habe dadurch noch perfekter gewirkt. Die Songauswahl war absolut stimmig. Dylans früher poetischer metaphernreicher Protestsong „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ aus dem Album „The Freewheelin’ Bob Dylan“, seinem ersten Meisterwerk von 1963 veranschaulichte überdeutlich hörbar die literarische Qualität schon der frühen Dylan-Songs. Hier nur ein paar Text-Zeilen herausgegriffen aus den Strophen des Songs, in deutscher Übersetzung:
„Ich komme aus dem Nebel von zwölf hohen Bergen. Ich stolperte über sechs bucklige Highways, ging mitten durch sieben traurige Wälder. Ich sah ein neugebornes Baby, umgeben von Wölfen, einen Zweig, von dem kohlschwarze Bluttropfen fielen. Ich sah zehntausend Redner mit gebrochenen Zungen, sah Gewehre und Schwerter in den Händen von Kindern. Ich hörte das Grollen des Donners als Warnung, hörte Zehntausende flüstern, die niemand beachtete, hörte einen verhungern, und die anderen lachten, hörte das Lied eines Dichters, der starb in der Gosse.
Ich geh wieder zurück, eh der Regen herunterkommt, zurück in die Tiefen der dunkelsten Wälder, wo die Menschen sich drängen, mit nichts in den Händen, an Seen und Flüssen, die alle vergiftet sind, wo das Haus in der Schlucht ein dumpfes Gefängnis ist, wo der Henker niemals sein wahres Gesicht zeigt, wo der Hunger wütet und die Seelen vergessen sind, wo keiner was zählt, wo schwarz die einzige Farbe ist. Und ich sag es und denk es und spreche und atme es, und send’ es vom Berg, damit alle es sehen, dann steh ich auf dem Meer, bis ich anfange zu sinken. Und es wird schwer, es wird schwer, es wird schwer, es wird schwer, ein schwerer Regen wird niedergehen“. (Übersetzung nach Carl Weissner)

Biblisches, Apokalyptisches und aktuell Politisches aus der damaligen Zeit der Kubakrise mit der Gefahr eines drohenden Atomkrieges zwischen den Großmächten, das alles vermischte sich in diesem sprachmächtigen Song, der häufig interpretiert und gecovert wurde, unter anderem von Edie Brickell, Joan Baez, Grateful Dead, The Staple Singers und Bryan Ferry. Auch in Deutschland wurden Dylan-Songs interpretiert. Die ersten, die in Deutschland Dylan-Songs ins Deutsche übersetzten und auf Platten veröffentlichten, waren 1965/66 die beiden Frankfurter Liedersänger und Songschreiber Christopher und Michael. Zu ihren ersten Veröffentlichungen von ins Deutsche übersetzten Dylan-Songs zählte ihre Neufassung von „Don’t Think Twice It’s Alright“ mit der Überschrift „Denk nicht dran“:

Bob Dylans Song „Don’t Think Twice, It’s Alright“ erschien 1963 und wurde vom Frankfurter Liedersänger- und Folkduo Christopher & Michael 1965 ins Deutsche übertragen. In ihrer Entwicklung als Liederschreiber haben die beiden erheblich von Bob Dylan gelernt, wie die ganze damals sich entfaltende deutsche Liedermacher-Szene. Als Lehrmeister oder Vorsänger der weltweiten SingerSongwriter-Bewegung sah Dylan sich keinesfalls, auch wenn er in diesen Rang von Musikern, die ihm nacheiferten, gehoben wurde.
Dass Dylan Erwartungen nicht erfüllen, die üblichen Regeln nicht einhalten und sich niemals eindeutig festlegen lassen wollte, bewies er auch 2007, als er mit dem DJ und Remix-Produzenten Mark Ronson zusammenarbeitete und eine Dance-Remix-Version seines damals 41 Jahre alten Songs „Most Likely You Go Your Way“ veröffentlichte. Wie sehr er schon immer auf seine Eigenheit bestanden hat, formuliert der Refrain unmissverständlich: „Du gehst deinen Weg und ich geh meinen“.

Bob Dylan scheut sich nicht im geringsten, eine seiner gültigen Songaufnahmen von einem DJ und Remixer clubgerecht mit Drumbeats bearbeiten zu lassen. Der Originalsong stammt aus Dylans Meisterwerk, dem ersten Doppelalbum der Popgeschichte „Blonde On Blonde“ von 1966. Und da hörte man wieder die typische zerdehnte Singweise von Bob Dylan „When you go your way and I’ll go mine“.
Seinen eigenen Weg ging Dylan auch in Bezug auf die Interpretation seiner eigenen Songs im Konzert. Nicht selten glichen die Live-Versionen seiner bekannten Songs fast einer Dekonstruktion. Immer wieder frustrierte er Konzertbesucher, die seine Hits in vertrauter Form hören wollten, mit radikal veränderten Neufassungen, bei denen die Originalmelodien mitunter kaum noch erkennbar waren. Dylan weigerte sich, wie eine Jukebox die einmal veröffentlichte Studiofassung immer wieder zu reproduzieren. Bei der Komplexität seiner Songinhalte drängte es sich geradezu auf, veränderte Hör- und Sichtweisen auszuprobieren. Außerdem langweilte es ihn, seine Songs immer auf die gleiche Weise nachzuspielen. Ein Beispiel für eine gelungene Weiterentwicklung, besser Neudeutung: Sein balladeskes Liebeslied „Lay Lady Lay“ erst in der Originalfassung, dann in eigener Neubearbeitung

Aus dem Jahre 1976 ist dies eine Liveversion des ursprünglich als ruhige Liebesballade angelegten Songs „Lay Lady Lay“. Diese Live-Fassung unterscheidet sich vom Original aus dem Album „Nashville Skyline“ von 1969 erheblich. Sie erhielt nicht nur ein neues Chorarrangement und wurde deutlich Rock-betont gespielt, sondern enthält auch völlig neue Textpassagen.
Niemand hat das SingerSongwriter-Idiom so geprägt wie der stets wandlungsfähige Bob Dylan. Er hat vorgemacht, worauf es ankommt: nicht museal bewahrend zu verharren, sondern immer frei für neue Perspektiven zu bleiben, aber dennoch stets die Essenz des Songs herauszuarbeiten, wenn auch in unterschiedlicher Interpretation. Doch immer geht es darum, die Song-Geschichte als Text-Musik-Einheit zu erzählen, persönlich gefärbte Schilderungen, eigene Erfahrungen mit abstrakteren Darstelllungen, die vom Privaten abstrahieren zu verbinden; die Texte buchstäblich ernst zu nehmen, sie in einer poetischen, von Metaphern und Allegorien ausgeschmückten Sprache zu formulieren, mit literarischen Bezügen und Verweisen auszustatten und dabei in der musikalischen Gestaltung eine einprägsame, volksliedhafte Melodik und emotional wirksame Harmonik zu verwenden und zusätzlich Wert zu legen auf text-ausdeutende, oder die Geschichte spannungsvoll unterstützende wechselvolle Arrangements, die aber insgesamt eher roh und schlicht als überbordend oder kunsthandwerklich fein ausgeführt sind. So hat Dylan seine Songs eigentlich immer geschrieben und ausgearbeitet: die harschen Anklagen genauso wie die sanfteren Balladen, die übrigens nie süßlich, sondern textlich stets gebrochen waren – siehe und höre jene berühmte Ballade aus dem legendären Doppelalbum „Blonde On Blonde“ von 1966: „Keinem tut etwas weh, heute Abend, während ich im Regen steh’. Jeder weiß Bescheid, die Liebste hat ein neues Kleid. Doch ihre Schleifchen und Bänder, in letzter Zeit lösen sie sich auf in einzelne Fädchen. Sie gibt sich ganz wie eine Frau, sie liebt ganz wie eine Frau, doch sie heult los wie ein kleines Kind“.

Im berühmten Dylan-Song „My Back Pages“ lautet die Refrainzeile „I was so much older then I’m younger than that now“ (Damals war ich viel älter als heute, ich bin jünger geworden seither). Im Text betreibt er auch Selbstkritik, wenn er vom Schwarzweiß-Denken spricht, dem er selbst verfallen gewesen sei. Seinen Refrain könnte man so deuten, dass er damals engstirniger und geistig älter gewesen sei als jetzt.
Wurde der zeitlose Dylan in den letzten Jahren musikalisch älter und bewahrender? Mit der Musik seiner aktuellen Alben und auch mit seinen eigenen, viel gelobten pophistorischen Radiosendungen ähnelt er einem Musik-Archivar, der die Geschichte der amerikanischen Musik dokumentieren will. In seinen letzten Alben, die seit 2001 veröffentlicht wurden, pflegt er überwiegend den Retro-Stil mit Anlehnungen an die US-amerikanische Musik der 40er und 50er Jahre, was nicht bedeuten muss, dass Dylans Musik altmodisch ist, was aber heißt, dass er musikalisch die Zukunft der Vergangenheit bearbeitet. Ein „poor Boy“ steht im Zentrum der folgenden tragischen Familiengeschichte, die musikalisch aber dennoch fast leicht und fröhlich im Stil eines Barjazztrios aus einer Hotellobby daherkommt und aus dem Album „Love And Theft“ stammt. Die Mutter starb früh, seinen Vater hat der arme Junge nie kennen gelernt, er arbeitete immer hart, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Er musste anderer Leute schmutziges Geschirr waschen und die Schweine füttern. Armer Junge.
Po’boy live

„Love And Theft“ ist der Titel seines Albums von 2001. Im Song „Mississippi“ betreibt Dylan eine seiner typischen reibungsvollen Milieu-Studien mit charakteristischen Songzeilen wie diesen: „Jeden Schritt des Weges gehn wir gerade aus. Deine Tage sind gezählt, meine auch. Wir kämpfen uns voran, aber es gibt kein Entkommen. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, hab in der Stadt gearbeitet, war schon in Schwierigkeiten, seit ich meinen Koffer abgestellt habe. Ich kann dir nichts bieten, hatte auch vorher nichts, hab nicht mal was für mich selbst. Der Himmel ist voller Feuer, Schmerzen regnen herunter. Der Teufel läuft durch die Gassen, das Maultier steht im Stall. Sag, was immer du willst, ich hab alles schon gehört. Ich gehe durch Laub, das von Bäumen fällt, fühl mich wie ein Fremder, den keiner kennt. So vieles, was wir nicht rückgängig machen können. Ich weiß, dir tut’s leid, mir auch. Dem Südstern folgend bin ich hergekommen, habe den Fluss überquert, nur um da zu sein, wo du bist. Doch mein Schiff ist zersplittert und sinkt schnell. Ich ertrinke im Gift, habe keine Zukunft, keine Vergangenheit. Aber mein Herz ist nicht voller Kummer, es ist leicht und frei. Das einzige, was ich falsch gemacht habe, ich blieb in Mississippi einen Tag zu lang“. so lautet die Schlusszeile in diesem Song, der musikalisch entspannt durch den Tag eines Verlierers in Mississippi stapft, und davon erzählt, dass auch der Verlierer eine Chance hat, die Frau, die er liebt, für sich zu gewinnen.

Live From Washington, D.C., 11/15/2001

„Die Leere ist endlos, kalt wie Lehm. Du kannst immer zurückgehen, aber nicht den ganzen Weg. Nur eines machte ich falsch, ich blieb in Mississippi einen Tag zu lang“, singt Dylan mit grummelnder, tief schürfender Stimme. Melancholisch, ohne schwermütig zu sein, eher gelassen und abgeklärt erzählt Bob Dylan diese Geschichte über das einfache und doch so schwierige Leben einfacher Leute in Mississippi.
Während der moderne Zug der Popentwicklung mit Volldampf weiter in Richtung Computerelektronik, Stilmix und Klangperfektionierung davonbrauste, schlenderte Altmeister Bob Dylan gemächlichen Schritts in die entgegengesetzte Richtung. Handgemachte, stilistisch altbekannte und unperfekt gespielte Roots-Musik enthalten fast alle seiner letzten Alben, so auch „Love And Theft“ von 2001, dem der gerade gehörte Song „Mississippi“ entstammt. Was er musikalisch liebt, davon klaut er auch gerne, passend zum Motto des Albums „Liebe und Diebstahl“: urtümlichen Blues der 30er Jahre, ebenso ruppig wie kraftvoll intoniert, Ballsaal-Swing der 40er, Stehgeiger inklusive – und Barmusik der 50er mit Jazzbesen und der Anmutung eines langsamen Foxtrott. Je älter er wurde, umso weniger schien er sich für die aktuellen Spielweisen des Pop zu interessieren. Statt Klanginnovation wummert die Hammondorgel und fiedelt altmodisch die Geige. Statt glatter Perfektion rumpeln die E-Gitarren durch schmutzige Blues-Riffs, der Rhythmus wackelt vor lauter Spielfreude und der Meister singt schief, aber mit Ausdruck und gefühlvoller Raspelstimme. Ja, diese Musik lebt – doch scheinbar in einer anderen, früheren Zeit. Was man an Dylans Musik hat, das wird im Kontrast hörbar, wenn man sich die relativ flache Popsongversion des Songs „Mississippi“ in der Bearbeitung von Sheryl Crow anhört.

Ganz hübsch und nett, aber doch um einiges oberflächlicher ist diese Coverversion des Dylan-Songs „Mississippi“ von Sheryl Crow im Vergleich zur Originalfassung von Dylan selbst. Musikalisch gesehen, kann man ihm bei diesem Vergleich einige Pluspunkte gutschreiben, bei anderen Gegenüberstellungen von Original und Cover verhält es sich anders, aber hier in dieser Diskussion soll ja weniger die musikalische als vielmehr die textliche Qualität der Dylansongs betrachtet werden.
Als am 13. Oktober 2016 publik wurde, dass Dylan den Literaturnobelpreis 2016 erhält, begann sofort eine heftige Diskussion, ob diese höchste Ehrung in der Literatur für die Liedtexte des singenden Poeten und für die beiden von ihm geschriebenen Bücher überhaupt angemessen sei. Von Seiten der Songwriter-Kollegen aus Pop und Rock kam sofort eindeutige bis geradezu jubelnde Zustimmung, doch aus dem Lager des klassischen Literaturbetriebs überwogen die kritischen Bedenken und Ablehnungen.
Der Literaturkritiker Denis Scheck ließ sich mit dem Kommentar zitieren: „Gelegentlich erlaubt sich die Akademie ein ‚Späßken‘. Die Auszeichnung von Bob Dylan ist genauso ein Witz, wie es die von Dario Fo war. Am besten, man lacht mit.“
Der britische Schriftsteller Irvine Welsh, Autor des Popromans „Trainspotting“ sagte: „Ich bin ein Dylan-Fan, aber dies ist ein schlecht durchdachter Nostalgie-Preis, herausgerissen aus den ranzigen Prostatas seniler, sabbernder Hippies.“
Die österreichische Publizistin und Literaturkritikerin Sigrid Löffler äußerte sich wie folgt: „Selbstverständlich sind Liedtexte, gerade die von Bob Dylan, natürlich wunderbar. Nur: Diese Texte sind keine eigenständige Lyrik, denn sie funktionieren nur, wenn sie gesungen sind.“
Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, Literaturnobelpreisträger des Jahres 2010, sagte in einem Interview: „Bob Dylan ist ein großer Sänger, aber er ist kein Schriftsteller. Ich mag seine Musik sehr, aber es gibt viele, viele Schriftsteller, die besser für diese Auszeichnung qualifiziert gewesen wären.“
Und die FAZ schrieb: „Wenn überhaupt, dann hätte Bob Dylan den Nobelpreis für Popmusik verdient.“
Der Dichter-Sänger Leonhard Cohen, der es verdient gehabt hätte, sich zumindest den Literaturnobelpreis mit Dylan zu teilen, bemerkte, für ihn „komme die Auszeichnung dem Versuch gleich, dem Mount Everest eine Medaille dafür anzuheften, der höchste Berg der Erde zu sein.“
Hätte sich Dylan den Pop-Nobelpreis verdient, wenn es den überhaupt gäbe, dann z.B. für den folgenden traditionellen Rock-Song „Thunder On The Mountain“ aus seinem Album „Modern Times“ von 2006, dessen Text unter anderem merkwürdigerweise von der R&B-Sängerin Alicia Keys handelt. Dylan singt da:
„Ich dachte an Alicia Keys, konnte mich nicht vom Weinen abhalten
Als sie in Hell´s Kitchen geboren wurde, lebte ich unten an der Grenze
Ich frage mich, wo in aller Welt Alicia Keys sein könnte
Ich habe durch ganz Tennessee hindurch nach ihr Ausschau gehalten“ - Was hat das zu bedeuten und ist das Poesie, gar Literatur?

„Donner auf dem Berg und Feuer auf dem Mond“ - so beginnt der Text dieses Dylan-Songs aus seinem Album von 2006 „Modern Times“, das in den USA Platz 1 der Albumcharts erreichte und von den Musikmagazinen „Rolling Stone“ und „Uncut“ zum besten Album des Jahres 2006 gekürt wurde. Auszeichnungen und andere Ehrungen häuften sich im Laufe seiner Karriere, von Ehrendoktortiteln über Grammys bis zum Golden Globe und einem Oscar für seinen Filmmusiktitel „Things Have Changed“. Aber er bekam auch Gegenwind und musste sich herbe Kritik gefallen lassen.
„Dylan sollte sich was schämen“, ereiferte sich 2016 der Menschenrechtler Brad Adams von Human Rights Watch, weil der einstige Protestsänger sein Live-Programm habe zensieren lassen. Sowohl bei seinen Auftritten in China als auch in Vietnam verzichtete Dylan auf seine Protestsongs „The Times They Are A-Changin“ und „Blowin’ In The Wind“ und habe sich somit der Zensur gebeugt und die Freiheitsbewegung verraten. Zeigt sich hier wieder das alte Missverständnis, dass Dylan in den sechziger Jahren zum führenden Kopf der Protestbewegung in den USA erklärt wurde, diese ihm zugedachte Rolle aber niemals spielen wollte? Sein ablehnender Song „It Aint Me Babe“ („Ich bin nicht der, den du suchst“) kann als Ausdruck dieser Verweigerungshaltung gedeutet werden. Unmissverständlich wurde er im „Subterranean Homesick Blues“ mit der gleichermaßen klaren wie ironischen Zeile „Folge keinem Führer, beachte die Parkuhren“.
Und eine weitere berühmte Zeile lautet: „You don’t need a weatherman to know which way the wind blows. Du brauchst keinen Wettermann, um zu wissen, woher der Wind weht“. Der berühmte Subterranean Homesick Blues stammt aus dem Dylan-Album vom März 1965 „Bringing It All Back Home“, das als eines der ersten Folkrockalben überhaupt gilt.

Der Führer wider Willen und seine Gefolgschaft
Aber dennoch folgten Heerscharen von Anhängern jahrzehntelang dem wortmächtigen „Picasso of Song“ (Leonard Cohen), verfolgten seine Songbotschaften vom sarkastischen „With God On Our Side“ (1964) über die Hoffnung auf jenseitige Erlösung im Song „Tryin’ To Get To Heaven“ (1997) bis zum liebes-sehnsüchtigen „I Feel A Change Comin On“ (2009); sie pilgerten zu den Konzerten seiner „never ending tour“ und nahmen ihm nicht krumm,
dass er 1979 mehr predigte als sang und im Sinne seiner christlichen Erweckung missionierte, dass er 1987 ohne einen Hauch von Kritik an der DDR-Obrigkeit in Ost-Berlin auftrat,
dass er 1997 für den stockkonservativen Papst Johannes Paul II. spielte und sich anschließend mit einem tiefen Diener vor dem Nachfolger Petri verneigte.
Sie wollten nicht wahr haben, dass die Stimme ihrer Generation, jener „kritische Songpoet, der oft gegen die Allgegenwart der Reklame polemisierte“ (FAZ) 2004 Werbung für luxuriöse Damenunterwäsche machte. Und dass der „Shakespeare des 20. Jahrhunderts“, der größte lebende Dichter des Pop“ sogar seinen heiligen Protestsong „The Times They Are A.Changing“ für einen Werbespot der „Bank of Montreal“ hergab.

Ihm haben seine Anhänger alles verziehen, die Predigten während seiner christlichen Erweckungsphase, seine uninspiriertesten Platten Mitte bis Ende der 1980er Jahre, seine Crooner- und Sinatra-Phase, sogar sein peinsames Weihnachtsalbum „Christmas In The Heart“ von 2009. „Dylan klingt hier wie eine debile Tante Emma nach der zweiten Flasche Eierlikör“ (laut.de). Die Zeit seiner Schreibblockade nutze er, indem er sich 1988 seinen Kollegen Tom Petty, George Harrison, Jeff Lynne und Roy Orbison für einen Ausflug mit den Travelling Wilburys anschloss. Auch wenn diese Supergroup als „one of the great commercial coups of the decade“ in die Popgeschichte der späten 1980er Jahre einging, blieben die Traveling Wilburys doch nur eine Fußnote in der künstlerischen Entwicklung von Bob Dylan. Die Refrainzeile der zweiten Wilbury-Single „Well, it's alright, we're going to the end of the line“ könnte Anstoß und Überschrift für Dylans „Never Ending Tour“ gewesen sein, die im Juni 1988 begann.

Von Zimmermann zu Dylan
Wenn ein Sänger seinen bürgerlichen Namen Robert Allen Zimmermann ablegt, um sich Bob Dylan zu nennen – nach dem walisischen Dichter Dylan Thomas, der für seine poetische Kunst gefeiert wurde, aber schon im Alter von 39 Jahren an den Folgen seiner Alkoholsucht starb – dann durfte man von einem gewissen Anspruch dieses Sängers und Songschreibers ausgehen. Tatsächlich gilt er als der bedeutendste Songschreiber der Popgeschichte, weil er wie kein anderer die ur-amerikanischen Musikstile mit Songtexten von hohem literarischem Rang verschmolz.
Über seine stimmlichen Qualitäten streiten sich die Geister. Während seine Fans von der besonderen Ausdrucksstärke, Authentizität und rauen Intensität schwärmen, mokieren sich andere über seine „unschöne“ Stimme, die wie „kochender Straßenteer“ klinge oder als käme sie geradewegs „über die Mauern eines Lungensanatoriums“. Kein Wunder, dass so mancher Popfan fast jede Coverversion eines Dylan-Songs dem Original vorzieht. Und Neuinterpretationen und Coverversionen von Dylan-Klassikern gibt es wie Sand am Meer. Das reicht von den Byrds bis Jimi Hendrix, Van Morrison bis Richie Havens, Manfred Mann’s Earth Band bis Guns N’ Roses, Eric Clapton bis The White Stripes, Chrissie Hynde bis Sheryl Crow, Norah Jones bis Cassandra Wilson usw.. Unter den deutschsprachigen Dylan-Interpreten sind zu nennen: Wolfgang Ambros, Christopher & Michael, Wolfgang Niedecken, Ringsgwandl, Dirk Darmstädter u.a..
Die legendärste und zugleich gelungenste Interpretation eines Dylan-Songs ist diese:

Zu den großen Coverversionen jüngeren Datums zählt nach Kritikermeinung auch Adeles Neufassung des Songs „Make You Feel My Love“ aus Dylans Comebackalbum „Time Out Of Mind“. „Im Grunde sticht ihre Interpretation das Original von 1997 in fast jeder Hinsicht aus. Wo Dylan sich so durchnäselt, strahlt Adele mit ihrer Grandezza die Leidenschaft und Verletzlichkeit aus, die eine Liebeserklärung braucht. Sie singt die Angst vor dem Scheitern der Liebe gleich mit.“ (Frank Junghänsel, FR, Pfingsten 2021)

Dylan der Archivar
Heute ähnelt Bob Dylan mit seinen Alben von „Love And Theft“ (2001) über„Modern Times“ (2006) und „Together Through Life“ (2009) bis „Rough and Rowdy Ways (2020) und auch mit seinen eigenen, viel gelobten pophistorischen Radio-Sendungen einem Musik-Archivar, der die Geschichte der amerikanischen Musik dokumentieren will.
Viele Musikbegeisterte seiner Generation haben bis heute mehr Bezug zu der frühen Phase des Meisters, als Dylan-Songs noch für gesellschaftlichen Aufbruch und revolutionäre Veränderungen standen und greifen entsprechend selbst gerne ins Dylan-Archiv. Als Kultobjekt gilt vielen Dylan-Verehrern der Dokumentarfilm „Don’t Look Back“ von P.A. Pennebaker. 1967 erschien der Tour-Film von Bob Dylans dreiwöchiger Solo-Tournee durch England, die im Frühjahr 1965 stattfand. Dieser Film „Don’t Look Back“ gilt als eines der großen Zeitdokumente der populären Musikgeschichte. Man sieht Ausschnitte aus den Konzerten und viele private Szenen wie aus einem Reisetagebuch:
Joan Baez singt zur Gitarre im Hotelzimmer „Love Is Just A Four Letter Word“, während Dylan ununterbrochen in seine Reiseschreibmaschine Texte hämmert. Irgendwann sagt er: „Ich hab den verdammten Song nie beendet.“ Später greift auch er zur Gitarre und singt ein paar Zeilen aus dem Hank Williams-Klassiker „I’m So Lonesome I Could Cry“. Nächste Szene: Dylan steht in Newcastle vor dem Schaufenster eines Musikgeschäfts, betrachtet die ausgestellten E-Gitarren und sagt: „Schau dir diese Gitarren an, so was kriegst du in den Staaten nicht.“ Später sieht man Dylan in einem Hinterzimmer Klavier spielen. Dann ein Interview, ein launiges Gespräch mit Alan Price, bei dem viel gelacht wird.
Dylan backstage kurz vor einem Auftritt. Dylan auf der Bühne, er singt: „Don’t Think Twice“. Dylan debattiert mit einem betrunkenen Fan. Donovan singt im privaten Kreis „To Sing For You“. Er reicht die Gitarre an Dylan weiter und sagt: „Ich würde gerne ‚It’s All Over Now, Baby Blue’ hören“. Dylan erfüllt ihm den Wunsch. In der Royal Albert Hall singt er: „The Times They Are A-Changin’“. In der nächsten Ansage spricht er von einem schrecklichen Traum. Er habe in die Toilette geschaut und hätte dort Donovan gesehen. Er grinst, das Publikum lacht und applaudiert.
Und so geht dieses Roadmovie immer weiter. Es gehört zu den besten frühen Filmen über Popmusik, die je veröffentlicht wurden.
Ein Ausschnitt: Dylan meets Donovan

Vom Roadmovie zum Reisen um die Welt
Heute, jedenfalls vor Corona und sicher auch wieder danach, konzertiert Dylan überall auf der Welt – auch in kommunistischen Staaten, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen. Auch wenn Dylan sich der chinesischen Zensur beugt und seine berühmten Protestlieder in Peking und Shanghai nicht singt, finden sich im restlichen Songrepertoire, das er live singt, noch genug Bezüge, die kritisch bis aufmüpfig zu deuten sind. In Ho-Chi-Minh-Stadt sang er „Gonna Change My Way Of Thinkin“, in dem es heißt: „Ich werde mein Denken ändern, werde mit meinem Fuß aufstampfen und mich nicht mehr von Narren beeinflussen lassen.“ In China hatten oppositionelle Kräfte ihn gebeten „I Shall Be Released“ zu singen, was sich dann angehört hätte wie „Ai Shall Be Released“, ein Aufruf für die Freilassung des damals inhaftierten Künstlers und Regime-Kritikers Ai Weiwei. Doch Dylan tat das nicht. Er lässt sich vor niemandes Karren spannen.
Im seinem Song „Things Have Changed“ von 1999 heißt es: „Die Leute sind verrückt und die Zeiten sind seltsam / Ich bin mittendrin und außer Reichweite / Ich habe mal Anteil genommen, aber die Dinge haben sich geändert.“

Dylan ist der „Shakespeares unserer Tage“, der „schlechthin vollendete Rock-Solointerpret“, der „Picasso of Song“, wie ihn Leonard Cohen genannt hat, ihn, den „Dichterfürsten des Pop“, den „Gröswraz“, den größten Songwriter aller Zeiten, der seit langem das Abonnement hat auf ebenso gültige wie endgültige Kernsätze – um nur diese eine Strophe zu zitieren, oder vielleicht auch noch eine zweite: „Ich hab meinen Rücken zur Sonne gedreht, das Licht ist zu intensiv. Ich kann sehen, wogegen jeder auf der Welt zu kämpfen hat. Du kannst nicht umkehren, du kannst nicht zurückkommen, manchmal treiben wir es zu weit. Eines Tages wirst du die Augen öffnen. Dann wirst du erkennen, wo wir stehen. Jeder Moment des Daseins wirkt wie ein schmutziger Trick, Glück kann plötzlich kommen und ebenso schnell wieder gehen, zu jeder Minute des Tages kann die Seifenblase platzen. Wenn du versuchst, die Dinge für jemanden zu bessern, machst du sie womöglich nur tausendmal schlimmer“.
Und diese inhaltsschweren Sätze singt er mit seiner altersschweren Rabenstimme zu einer melancholisch-süßlichen Country-Ballade wie aus uralten Zeiten.

Und wieder kommen die Frauen wahrlich nicht gut weg in diesem Dylan Song „Sugar Baby” aus seinem Album „Love and Theft“ von 2001 – wenn er singt: „Man muss immer vorbereitet sein, aber man weiß nie worauf. Es gibt keine Grenze für die Menge Ärger, den Frauen mit sich bringen. Sugar Baby geh die Straße weiter, du hast nichts im Kopf, gar nichts.“ Dafür hat er natürlich jede Menge im Kopf: brillante Song-Ideen, ein Universum an Sprachbildern und Assoziationen, einen eigenen Kosmos an Worten und Tönen, die bislang über 48 Studio- und Live-Alben mit Song-Preziosen angefüllt haben. Die Songs der letzten Alben haben, musikalisch gesehen, allesamt eine ähnliche Ausrichtung: den Blick zurück in die Geschichte der amerikanischen Musiktradition. Wenn man alt oder älter wird, dann schaut man offenbar gerne in die eigene Vergangenheit zurück. Songwriter-Kollegen wie Joni Mitchell, Peter Gabriel oder Sting, greifen ihre alten Songs nochmals auf und lassen sich begleiten von einem Klangkörper aus der Musikgeschichte, einem großen Orchester. Davor hat sich Bob Dylan bislang gehütet. Würde vielleicht auch merkwürdig klingen, wenn sein Klassiker „Like A Rolling Stone“ von Harfen, Geigen und Kesselpauken begleitet würde.
Und doch, selbst das hat er nicht ausgelassen, 1994, mit dem Tokyo New Philharmonic Orchestra

Bob Dylan begleitet von einem Sinfonieorchester: die Reaktionen reichten von Entsetzen über Achselzucken bis zu freundlicher Zustimmung. Sein historischer Blick richtet sich in der Regel auf die Wurzeln der amerikanischen Musik. In seinen Alben „Love And Theft“ von 2001, „Modern Times“ von 2006 und „Together Through Life“ von 2009 finden sich viele Bezüge zu ur-amerikanischen Musikstilen wie Blues, Rockabilly, Western Swing, Bluegrass, Traditional Jazz und Balladen aus der Musical- und Broadway-Tradition. So greift z.B. der Dylan-Song „Someday Baby“ aus dem Album „Modern Times“ auf Blues-Themen von Muddy Waters und Sleepy John Estes zurück. Und wieder kommt das angesungene Baby in diesem Dylan-Text nicht gut weg: „Es ist mir egal, was du tust und was du sagst, wohin du gehst und wie lange du bleibst, Du hast mein Geld genommen und mich rausgeworfen. Du füllst mich ab mit nichts als Selbstzweifeln. Du hast mich fast ins Grab gebracht. Du kannst deine Klamotten in einen Sack stecken, dann geh die Straße runter und komm nicht mehr zurück. Ich wollte freundlich und nett sein, jetzt vertreib ich dich aus deinem Haus, so wie ich aus meinem vertrieben wurde. Eines Tages Baby bin ich dir auch egal“. Textlich ist das harter Stoff für die einstmals Geliebte, musikalisch ist das eher leichte Kost für den Boogie-Shuffle-Rhythm’n’Blues-Enthusiasten.

Für diesen Song „Someday Baby“ aus dem Album „Modern Times“ von 2006 erhielt Bob Dylan einen Grammy Award, wurde nominiert in der Kategorie „Best Solo Rock Vocal Performance“. Auch das Album bekam einen Grammy-Award und übertraf auch alle kommerziellen Erwartungen mit einer Verkaufszahl von stolzen 6.1/2 Millionen und mit Nummer-1-Notierungen nicht nur in den US-amerikanischen Charts, sondern auch in 7 weiteren Ländern von der Schweiz bis Australien. Das negative Frauenbild, das in den beiden zuvor gehörten Songtexten zu vernehmen war, will der Kritiker Richard Goldstein generell bei Dylan erkannt haben. In seiner Analyse von Dylan-Songs will er bedenkliche Ansichten über Frauen gefunden haben: als „schamlos, böse, nicht vertrauenswürdig oder als gefährlich“ würde er die Frauen in seinen Songs beschreiben und nehme damit eine Haltung ein, die man nur „machohaft, konservativ, ja fundamentalistisch“ nennen könnte. Und er zitiert Dylans erste große Liebe Suze Rotolo mit der Aussage: „Der Erfolg verwandelte meinen Freund mehr und mehr in einen Egozentriker“. Und Joan Baez, mit der Dylan kurzzeitig liiert war, soll gesagt haben, Dylan sei eine komplizierte und problematische Person.
Um gerecht zu sein, muss man allerdings auch auf etliche Liebeslieder verweisen, in denen Dylan ein positives Frauenbild zeichnet. Man denke nur an „Lay Lady Lay“, oder an sein Liebeslied „Sara“ für seine Ehefrau, die sich allerdings 1975, nach 10 Jahren Ehe von ihm trennte. Von einer Trennung handelt auch das schmerzliche Liebeslied „You’re A Big Girl Now“, aus dem Album „Blood On The Tracks“ von 1975. Die Titelzeile klingt zwar etwas herablassend: „Du bist ja jetzt groß“. Aber im Text finden sich sehr ehrliche, empfindsame und selbstkritische Zeilen. „Die Zeit ist ein Jet, sie fliegt so schnell vorbei. Aber welch ein Jammer, wenn nichts von dem bleibt, was wir geteilt haben. Ich kann mich ändern, das schwöre ich. Liebe ist ganz einfach, um diesen Spruch zu zitieren. Du wusstest es schon immer, ich lerne es so langsam. Ich dreh noch durch bei diesem Schmerz, der endet und wieder beginnt wie ein Korkenzieher in meinem Herzen, seit wir getrennt sind.“ Diesen Appell an die verlorene Geliebte singt nun eine Frau, die kanadische Singer/Songwriterin, begleitet von Norah Jones am Piano.

Für das Dylan-Tribute-Album „May Your Song Always Be Sung” von 2003 sang auch die Schwedin Elin Sigvardsson diesen Dylan-Song „You’re A Big Girl Now“ aus Dylans 15. Studio-Album „Blood On The Tracks“. Einer der stärksten Songs dieses Albums handelt von der Suche nach Geborgenheit und zeichnet erneut ein positives Frauenbild. Im Text heißt es: „Ich war ausgebrannt vor Erschöpfung, begraben unterm Schnee, vergiftet im Gebüsch und hinausgeweht auf den Weg, gejagt wie ein Krokodil, ausgeraubt im Korn. Plötzlich drehte ich mich um und sie stand da mit silbernen Bändern an den Handgelenken und mit Blumen im Haar. Anmutig kam sie zu mir und nahm meine Dornenkrone. ‚Komm herein’, sagte sie, ‚ich gebe dir Schutz vor dem Sturm’“. Die archaische Menschheitsgeschichte bemühte der Rolling Stone in seiner Besprechung dieses Songs „Shelter From The Storm“: Zitat: „In der Urzeit waren es Mühe und Notlage, in der Folgezeit ebenso. Und auf ewig die Rollenverteilung: das kämpfende und stets vom Tod bedrohte Männliche, das barmherzige und letztlich beschützende Weibliche. Das Unheil hat hier viele Gesichter, doch am Ende eines jeden Verses steht die Rettung: „I’ll give you Shelter from the Storm“

Der Hamburger Singersongwriter Dirk Darmstaedter, der mit den Songs von Bob Dylan in den USA aufwuchs, erfüllte sich einen großen Traum und nahm 2010 ein reines Dylan-Cover-Album auf „Dirk sings Dylan“. 2016 trat er während der Nacht der Museen in Frankfurt mit seinem Dylan-Programm auf. Da stand er im kleinen Aufführungsraum des Jüdischen Museums nur mit seiner Gitarre und mit der Mundharmonik im Drahtgestell vor dem Mund und wirkte wie eine junge Inkarnation des großen Meisters, wie er da vor dem Mikrofon stand und die Dylan-Texte intensiv mit viel Emotion sang – im Tonfall eine Mixtur aus Dylan und Roger McGuinn von den Byrds. Und er spielte in typischer Dylan-Manier die Mundharmonika und die akustische Gitarre. Und vor ihm saßen die Leute auf dem Boden wie in alten Zeiten und spürten die Intimität der Songs, des dicht besetzten Raums und des gekonnten Vortrags. Und so mancher Anwesende fühlte sich zurückversetzt ins Jahr 1964 als der 23-jährige Dylan mit Gitarre und Mundharmonika auf der Bühne stand, von der Zeitenwende sang und die Menschen in seinen Bann zog, weil es spürbar, weil es greifbar war, dass sich die Zeiten wirklich änderten.


Diesen frühen Dylan-Song „The Times They Are A-Changing” hatte sich die amerikanische Bürgerrechtsbewegung als ihre Hymne auserkoren. Hier hörten wir das Trio James Taylor, Carly Simon und Graham Nash in schöner Dreistimmigkeit bei ihrem Auftritt während des Anti-Atom-Festivals „No Nukes“ von 1979 in New York.

Bob Dylan 1964 (Foto: Wikimedia commons)

Zurück zu den Anfängen:
Im Februar 1962 schrieb Bob Dylan den Song „Let Me Die In My Footsteps“, zu deutsch etwa „Lasst mich aufrecht sterben“. Über den eigenen Tod zu schreiben, ist nicht unbedingt ein übliches Thema für einen damals 20-jährigen. Der Song war gedacht für Dylans zweites Album „The Freewhelin’ Bob Dylan“, wurde dann aber zugunsten des stärkeren Songs „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ aussortiert. Der Song entstand zur Zeit des atomaren Wettrüstens zwischen den USA und der UdSSR unmittelbar vor Ausbruch der Kuba-Krise. Dylan hatte damals mit einer Mischung aus Entsetzen und Verwunderung dabei zugeschaut, wie ein riesiger Atom-Bunker am Rande einer amerikanischen Kleinstadt aufgebaut wurde. Und so schrieb er die Zeilen: „Es gibt Gerede vom Krieg und von früheren Kriegen. Der Sinn des Lebens ist vom Winde verweht / Und manche glauben, das Ende sei ganz nah / Statt zu lernen, wie man lebt, lernen sie zu sterben. Ich weiß nicht, ob ich klug bin, aber ich glaube, ich kann erkennen, ob mir jemand etwas vormachen will. Und wenn dieser Krieg kommt und Tod uns umgibt, dann lasst mich lieber auf diesem Land sterben als darunter. Lasst mich aufrecht sterben, bevor ich unter die Erde gehe.“ Und dann folgt eine schwärmerische Strophe, die nach Wandervogel und Naturbegeisterung klingt. Da heißt es: „Lasst mich das Wasser der Bergbäche trinken, lasst den Duft wilder Blumen durch meine Adern ziehen. Lasst mich schlafen auf Wiesen zwischen grünen Grashalmen. Lasst mich mit meinem Bruder in Frieden die Straße hinabgehen. Lasst mich aufrecht sterben, bevor ich unter die Erde gehe.“ Und zum Schluss folgt noch eine geradezu patriotische Strophe, in der es heißt: „Durchstreift euer Land, wo Erde und Sonne sich treffen. Seht die Krater und Canyons, wo die Wasserfälle sich ergießen, Nevada, New Mexico, Arizona, Idaho. Lasst jeden Staat dieser Union tief in Eure Herzen sinken. Und ihr werdet aufrecht sterben, bevor ihr unter die Erde geht.“ Dylans eigene Aufnahme dieses frühen politischen, lyrischen und patriotischen Songs wurde erst 1991 in der Bootlegs-Serie veröffentlicht.

Im Jahre 1999 interpretierte der 1973 in New York geborene Folksänger Alistair Moock diesen frühen Dylan-Song für sein zweites Album „Bad Moock Rising“ und arrangierte „Let Me Die In My Footsteps“ als langsamen Walzer im Folk-Country-Stil. Diese Coverversion von „Let Me Die In My Footsteps“ erschien auch im Dylan-Tribute-Album “May Your Song Always Be Sung” von 2003

Dylan-Songs gehören zu den meist-gecoverten in der Popgeschichte. Fast jeder Musiker, jede Band von Rang und Namen hat sich irgendwann einmal mit einem Song von Bob Dylan beschäftigt, so auch die Rolling Stones. Sie ließen es sich natürlich nicht entgehen, den Dylan-Klassiker „Like A Rolling Stone“ zu interpretieren, was sie dann auch in ihrem Live-Album „Stripped“ von 1995 gekonnt gemacht haben.

Like A Rolling Stone“ ist eine Art Schlüsselsong in der Popgeschichte. Dylan war gerade 24 geworden, als er den Song zu Ende geschrieben hatte und schon wenige Wochen später, am Abend des 25. Juli 1965 spielte Dylan mit seiner neuen elektrischen Begleitband diesen Song auf dem Newport Folk Festival – und wurde gnadenlos ausgebuht. Als Judas, als Verräter hat man ihn beschimpft, weil er es gewagt hatte, bei diesem Folkfestival mit der E-Gitarre aufzutreten. Die Folk-Puristen im Publikum wollten ihren Folksänger mit Akustikgitarre und umgehängter Mundharmonika wiederhaben, so wie sie ihn von den letzten Jahren her kannten und sie konnten und wollten nicht akzeptieren, dass Bob Dylan einen entscheidenden künstlerischen Entwicklungsschritt getan hatte vom Folk zum Folkrock, vom musikalisch schlichten Gitarrensong zum komplexeren Arrangement einer kompletten Band. Aber das Folkpublikum hat Dylan ausgepfiffen.
Im folgenden Ausschnitt aus dem Live-Mitschnitt des Festivals von 1965 ist der Skandal dokumentiert – der historische Moment, als Dylan ausgebuht wurde.

Unter den Pfiffen und Buhrufen des Publikums war der Song natürlich untergegangen und kaum jemand bekam damals mit, welche Qualitäten dieser Song hatte.
Man kann überall nachlesen, dass „Like A Rolling Stone“ als einer der einflussreichsten Rocksongs aller Zeiten gilt.
In verschiedenen Polls wurde der Song zum besten Song der Popgeschichte gewählt.

Und noch eine kleine Anekdote, die Bruce Springsteen erzählt hat. Als er 16 war, hätte er „Like A Rolling Stone“ zum ersten Mal im Radio gehört und wäre völlig gebannt gewesen. Der Sound des Songs und die Macht des Textes hätten ihn geradezu überwältigt. Und von diesem Moment an, habe er instinktiv gewusst, was er künftig machen wollte. 23 Jahre später war Bruce Springsteen selbst ein Rock-Superstar und hielt 1988 die Laudatio für Bob Dylan bei dessen Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame. Springsteen sagte damals, Elvis habe den Körper befreit und Dylan den Geist.
Und Bruce Springsteen hat dann auch einen Dylan-Song interpretiert: und zwar „Chimes Of Freedom“, „Glockenspiel der Freiheit“, zusammen mit Tracy Chapman, Sting, Peter Gabriel und Youssou N’Dour während ihrer gemeinsamen Benefiz-Tour für Amnesty International 1988

Bob Dylan erhielt ausgezeichnete Kritiken zu seinem bis dato jüngsten Studioalbum „Rough And Rowdy Ways“, seinem 39. Album, das am 19. Juni 2020 digital erschien und am 17. Juli 2020 als Doppel-CD Doppel-LP auf den Markt kam. Sein letztes Album mit selbst geschriebenen Originalsongs „Tempest“ lag bereits acht Jahre zurück und manch einer befürchtete schon, dass Dylan womöglich keine eigenen Songs mehr veröffentlichen würde. Die Dylanologen sind sich weltweit einig, dass dem 79-jährigen Doyen der internationalen SingerSongwriter-Szene mit „Rough and Rowdy Ways“ ein spätes Werk von besonderer Bedeutung gelungen ist. Und das kaufende Publikum schien nicht minder angetan zu sein und bescherte dem Album eine Top-Position in den Verkaufscharts diesseits und jenseits des Atlantik.
Musikalisch gesehen ist der Albumtitel irreführend. Die Musik ist weder rau noch laut. sondern eher einfühlsam und verhalten. Verweise auf die US-amerikanische Musikvergangenheit und auf die Welt der Literatur ziehen sich wie ein roter Faden durch alle 10 Songs des Albums. Die Textinhalte kreisen um die Kernthemen, Gewalt, Sterblichkeit, Krieg, Liebe und Sehnsucht, wobei eine dunkle Grundstimmung und düstere Perspektive überwiegt.
Musikalisch bietet das Album nicht unbedingt viel Neues, ist kompositorisch traditionell und variiert die bekannten ur-amerikanischen Musikstile Rhythm’n’Blues, Gospel, Folk und Country – und eine fast schnulzige Ballade fehlt auch nicht.
Im Stil des rohen Chicago-Blues spielt seine exzellente Begleitband den Song „Crossing The Rubicon“. Wenn jemand den Rubikon überschritten hat, dann gibt es kein Zurück mehr.
„Knorrige Stimme, rätselhafte Texte. „Eine Stimme wie Rauch, von Zigarren oder Weihrauch, voller Geheimnis und Andacht“ schrieb U2-Sänger Bono über die Stimme seines Vorbilds Bob Dylan.

„Ich kann die Knochen unter meiner Haut fühlen. Und sie zittern vor Wut. Hier findest du keine Freude“ singt Dylan in diesem düsteren Blues „Crossing The Rubicon“. Doch neben dem mürrischen Sinnieren über eine Welt, die über den Rubikon geht, finden sich gegen Ende auch hoffnungsvolle Zeilen: „Ich sehe das Licht, das Freiheit verspricht. Und ich glaube, dass jeder Mensch dies finden kann.“ Auch wenn sich sein Blick wegen der gesellschaftlichen Zustände verdüstert hat, so bezieht er doch Kraft und Trost aus der Kunst, speziell der Poesie und der Musik. Mit einem Shakespeare-Zitat beginnt sein großer Song „I Contain Multitude“, wobei dieser Titel aus einem Gedicht von Walt Whitman stammt.
„Heute, morgen und auch gestern, die Blumen verwelken so wie alles sterben muss.“ neben diesem Shakespeare-Zitat finden sich etliche weitere literarische und musikalische Bezüge. Edgar Allan Poe und William Blake tauchen im Text auf, genauso wie Beethoven und Chopin, sogar die Rolling Stones werden erwähnt. Im Text heißt es manchmal fast banal, dann wieder hoch poetisch teilweise auch recht kryptisch :
Ich werde meinen Verstand verlieren, wenn du nicht mit mir kommst
Ich mache viel Aufhebens um meine Haare und kämpfe gegen Blutfehden
In mir ist eine Vielzahl
Ich habe ein verräterisches Herz wie Mr. Poe
Ich habe Skelette in den Wänden von Leuten, die du kennst
Ich werde auf die Wahrheit und die Dinge trinken, die wir gesagt haben
Ich werde auf den Mann trinken, der dein Bett teilt
Ich male Landschaften und ich male Akte
In mir ist eine Vielzahl
Ich bin wie Anne Frank, wie Indiana Jones
Und wie diese britischen bösen Jungs, The Rolling Stones
Ich gehe bis an den Rand, ich gehe bis zum Ende
Ich gehe genau dort hin, wo alle verlorenen Dinge wieder gut gemacht werden
Ich singe die Lieder der Erfahrung wie William Blake
Ich muss mich nicht entschuldigen
Alles fließt gleichzeitig
Ich lebe auf dem Boulevard des Verbrechens
Ich fahre schnelle Autos und esse Fastfood
In mir ist eine Vielzahl
Ich trage vier Pistolen und zwei große Messer
Ich bin ein Mann der Widersprüche, ich bin ein Mann vieler Stimmungen
In mir ist eine Vielzahl

Mitte April 2020 erschien dieser Song „I Contain Multitude“ als Vorabsingle und Ankündigung des Albums „Rough And Rowdy ways“. Ebenfalls vor dem Erscheinen des Albums, am 8. Mai 2020 kam der Song „False Prophet“ auf den Markt, musikalisch eine Mischung aus Rock’n’Roll und Bluesrock mit einem vielschichtigen Text, aus dem man auch aktuelle Bezüge heraushören konnte. An wen denkt man, wenn man diese Zeilen hört:
„Ein langer Abschied, Du hast das Land regiert, Aber ich auch .
Du hast dein Maultier verloren, Du hast ein Hirn voller Gift“
weitere Textzeilen lauten:
„Ein weiterer Tag, der nicht endet
Ein weiterer Tag voller Wut, Bitterkeit und Zweifel
Ich bin der Feind des Verrats , Feind des Streits
Ich bin der Feind des unbelebten, bedeutungslosen Lebens
Ich bin kein falscher Prophet
Nein, ich bin niemandes Braut
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich geboren wurde
Und ich habe vergessen, wann ich starb

Er sei kein falscher Prophet, sagt der Ich-Erzähler in diesem knarzigen Bluesrock „False Prophet“. Und der Ich-Erzähler des Textes scheint hier zu stehen für die nicht nur in den USA wohlbekannte Figur des gefährlichen falschen Propheten, des Populisten, des es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und des Anführers, der spaltet und zur Gewalt anstiftet. Und ein wenig steckt wohl auch so etwas wie Selbstreflexion im Satz „Ich bin kein falscher Prophet, bin niemandes Braut“, schließlich hat man ihn wider Willen in den sechziger Jahren zum Propheten der jungen Generation erklärt. Das lyrische Ich scheint also auch etwas mit dem Songautor, also Dylan selbst zu tun zu haben, wie schon im Song zuvor „I Contain Multitude“ mit dem freimütigen Bekenntnis: „Ich bin ein Mann der Widersprüche, ich bin ein Mann vieler Stimmungen“. Auch der folgende Song ist in der Ich-Form geschrieben, doch hier versetzt sich der Autor in das Hirn eines verrückten Wissenschaftlers, der aus alten Gebeinen eine neue Kreatur erschaffen will, was womöglich eine Metapher ist auf die Auswüchse des menschlichen und technologischen Forscherdrangs. Wobei hier auch die weit verbreitete Unart im privaten Zusammenleben aufgespießt sein könnte, dass so mancher und so manche den Partner so sehen will oder so manipulieren will, wie es ihm und ihr am besten passt. Schließlich heißt der ebenso makabre wie ironische Song „My Own Version Of You“. Die Musik läuft in einer Art Texmex-Walzer in Dauerschleife immer wieder das gleiche abwärts laufende Motiv hinunter. Im Text heißt es:
„Den ganzen Sommer über bis in den Januar hinein
habe ich Moscheen und Klöster besucht
Auf der Suche nach den notwendigen Körperteilen
Gliedmaßen und Lebern und Gehirne und Herzen
Ich werde jemanden zum Leben erwecken, das möchte ich tun
Ich möchte meine eigene Version von dir erstellen
Ich sage, zur Hölle mit all den Dingen, die früher waren
Nun, ich bekomme Ärger, dann stoße ich gegen die Wand
Ich werde eine Zahl zwischen eins und zwei wählen
Und ich frage mich: ‚Was würde Julius Cäsar tun?’
Ich werde jemanden auf mehr als eine Weise zum Leben erwecken
Egal wie lange es dauert, es wird erledigt, bis es fertig ist
Ich werde meine Kreation zum Leben erwecken,
die Jahre zurückdrehen
Ich mach es mit Lachen und mach es mit Tränen

Im schier endlosen Walzerrhythmus dreht sich diese morbide Ballade um die Obsession eines besessenen Wissenschaftlers, der einen neuen Frankenstein erschaffen will.
Bob Dylans Stimme klingt auf dem neuen Album nicht mehr so rabenkrächzend ramponiert wie während seiner letzen Konzerte, klingt zwar noch immer aufgeraut doch auf besondere Weise zugewandt, sogar sanft und schmeichelnd, wie etwa in der folgenden Ballade „Mother Of Muses“. U2-Sänger Bono schrieb klug über Dylans Stimme: „Bob Dylan hat geschafft, was nur sehr, sehr wenige Sänger schaffen – er hat anders gesungen als irgendjemand vor ihm. Heute leben wir in einer Welt, die von seinem Gesang geprägt ist. Als Sam Cooke dem jungen Bobby Womack Dylan vorspielte, wusste der damit nichts anzufangen. Cooke erklärte es ihm dann: Ab sofort kommt es nicht mehr darauf an, wie schön eine Stimme ist. Was zählt ist nur, ob du ihr glaubst, dass sie die Wahrheit sagt.“ Authentizität, das ist es, was Dylans Stimme vor allem ausmacht, auch wenn seine Texterzählungen meist das Gegenteil von Authentizität sind. Doch wie eine authentische Stimme klingt, das macht sein Gesang in der Ballade „Mother Of Muses“ hörbar. Da singt er Zeilen wie diese:
„Mutter der Musen singe für mich,
singe von den Bergen und dem tiefen dunklen Meer
von den Seen und Nymphen des Waldes
Singe aus tiefstem Herzen, singt all Ihr Frauen des Chors
Singt von Ehre und Schicksal und Ruhm,
Mutter der Musen singe für mich, singe für mein Herz
Singe von einer Liebe, die zu früh verloren ging
Singe von den Helden, die allein standen
deren Namen auf Steintafeln eingraviert sind
die unter Schmerzen kämpften, damit die Welt frei werden konnte
Mutter der Musen sing für mich.
In der nächsten Strophe nennt Dylan die Namen von US-amerikanischen Generälen aus der Zeit des Sezessionskriegs, als der amerikanische Süden von der Sklaverei befreit wurde, bis hin zum 2.Weltkrieg, in dem die Welt vom Faschismus befreit wurde. Allerdings waren einige der genannten Generäle, die er schätzt, grausame Heerführer und fragwürdige Charaktere, was Dylan allerdings nicht thematisiert.

„Ich bin reisendes Licht und ein langsam Nach-hause-Kommender“, so endet der Text des Dylan-Songs „Mother Of Muses“, der rein musikalisch betrachtet an ähnliche Songstimmungen von Mark Knopfler erinnert. Die Inspiration, die Dylan von der Schutzgöttin der Künste in diesem Song „Mother Of Muses“ erbittet, ist ihm für das gesamte Album von der Mutter der Musen geschenkt worden. Der Dylan-Kenner Heinrich Detering sagte dem Deutschlandfunk: „Die Hymne an die Mutter der Musen, ist eine Hymne an die musikalische Kunst selbst. Poesie und Gesang können nichts verändern, das glaubt Dylan jedenfalls nicht, aber sie können trösten, stärken, die Widerstandskraft aufbauen. Darum ist das Album vielleicht noch mehr als ein geschichts-pessimistisches Zeugnis, ein amerika-pessimistisches Zeugnis, eine Liebeserklärung an die Kunst, vor allem an die Musik.“
Ein Zitat aus dem Blog „Cowboyband“:
„Wenn nun Dylans neues Werk „Rough And Rowdy Ways“ betitelt ist, so mag das zwar vordergründig ein Selbstbild des Künstlers oder seinem „lyrischen Ich“ geschuldet sein, es ist aber mindestens genauso auf den Aufstieg und den Niedergang Amerikas gemünzt. Einem Amerika, dessen Geburtsfehler, Lebenslügen, dessen Widersprüche und Aberwitzigkeiten nun angezündet werden von der Lunte eines diabolisch-dummen Neros im Weißen Haus, der das Land ex- und implodieren lässt. Einem kindischen Nero, der das amerikanisch Raue, Laute und Rauflustige geradezu idealtypisch verkörpert.“
Doch eigentlich bezieht sich die Albumüberschrift „Rough and Rowdy Ways“ auf den Country-Jodelsong „My Rough And Rowdy Ways“ von Jimmy Rodgers aus den 1920er Jahren, in dem er erzählt, dass er sich nach Jahren des Umherziehens niederließ, ein Haus baute und eine Frau heiratete. Aber immer wieder musste er an die Zeit des unsteten freien Lebens denken und erinnert sich wehmütig an seine „rough and rowdy ways“

Dieser Song des singenden und jodelnden Eisenbahnbremsers Jimmy Rodgers, der als Vater der Countrymusik gilt und 1933 im Alter von 36 Jahren an Tuberkulose starb, er lieferte die Anregung zu Bob Dylans Albumtitel „Rough and Rowdy Ways“. Wenn auch die dunklen Stimmungen im Album überwiegen, die Themen Gewalt, Tod und Untergang immer wieder aufflackern, findet sich doch auch diese Zeile: „Hibiscus Blüten blühen hier überall. Wenn du eine pflückst, trage sie hinterm Ohr.“ Der Hippietraum von San Francisco lässt grüßen. Aber es geht hier nicht um Kalifornien und erst recht nicht um Hippieträume. Key West sei der richtige Ort, wenn man nach Unsterblichkeit suche, singt Dylan romantisierend in seinem Akkordeon-Song „Key West (Philosopher Pirate)“. Noch ein Zitat aus dem Blog Cowboyband:
„Key West in Florida ist Dylans Sehnsuchtsort des anderen Amerika. Hier haben die Beatniks Ginsberg, Corso und Kerouac gelebt, hier verbrachten Tennessee Williams, Louis Armstrong oder Ernest Hemingway Teile ihres Lebens. Wenn er das Bild „I was born on the wrong side of the railroad track“ benutzt, dann identifiziert er sich auch hier wieder mit der afroamerikanischen Community, deren Platz stets am Rande der Orte, in den windschiefen Hütten hinter den Eisenbahnschienen war. Hier in Key West haben sie alle ihren Platz. Alle Menschen, alle Ethnien können nach ihrer Fasson im liberalen und optimistischen Klima zu sich selbst finden, nachdem sie am restlichen Amerika verzweifelten und fast den Verstand verloren haben.“
Und der Kritiker Werner Herpell schrieb:
„Mit zu Tränen rührender Scharfsichtigkeit schaut Dylan zurück auf sich und sein zerrissenes Land - der Ausblick ist noch einigermaßen tröstlich: «Key West is fine and fair/If You lost Your mind/You'll find it there». Dylan singt hier so zärtlich wie selten zuvor - auf das berüchtigte Nuscheln, Krächzen und Zetern verzichtet er zugunsten einer geradezu altersmilden Performance“.
Dylan hört einen Piratensender, die Verheißungen großer Popsongs im Radio und er ist so sehr verliebt, dass er alles wie verklärt sieht. Bougainvillea blüht hier ständig im Sommer und im Frühling. Winter kennt man hier nicht. Key West ist für Momente das Paradies.

Über das Opus Magnum des Albums, Dylans 17-minütiges Großwerk „Murder Most Foul“, das auf der zweiten CD zu finden ist und das vorab bereits im März veröffentlicht wurde, schrieb Jan Kubon, MDR KULTUR:
„Auch Bob Dylans erster Billboard-Nummer-1-Hit, auf den er lange warten musste, ist auf diesem 39ten Album zu finden: „Murder most foul" ist Dylans längster Song, geht knapp 17 Minuten und viele Kritiker halten ihn für den wichtigsten der letzten 25 Jahre. Alleine schon das Sujet des Songs – der Tag des Attentates auf John F. Kennedy – ist ein starkes politisch aufgeladenes Setting. Ein politischer Song über die Perversionen unserer Zeit gespiegelt in einem historischen Ereignis, einem Trauma. Die Brutalisierung der heutigen Welt, der nie verschwundene Rassismus, der Verlust menschlichen Anstandes – all darüber singt Dylan in „Murder most foul" und nutzt als Codierung dafür aber eine sehr genaue Beschreibung des Tathergangs des Mordes. Das Bild des blutenden, zusammengesunkenen JFK ist somit für Dylan mehr als nur eine Beschreibung, sondern ein Gleichnis für die heutige Zeit: Die Hoffnung verblutet – mit Blick auf die Unruhen in den USA wird der Song gleich nochmal politischer.“

Murder Most Foul

Zum 80. Geburtstag von Bob Dylan erinnert man sich gern an seine großen, unsterblichen Songerzählungen wie „Highway 61“, „Desolation Row“, „Visions Of Johanna“, „Sad Eyed Lady Of The Lowlands“, „Hurricane“, „Every Grain Of Sand“, etc.
Seine 1988 gestartete „Never Ending Tour“ – durch nur Corona unterbrochen – wird letztlich irgendwann beendet werden und doch eine Fortsetzung finden: „May your songs always be sung ... and may you stay ...

[Der Text diese Blogs basiert teilweise auf meinen Manuskripten meiner Radiosendungen zum 50., 60., 70. und 75. Geburtstag von Bob Dylan, sowie zur Veröffentlichung des Albums „Rough and Rowdy Ways“ (Volker Rebell)]

Zugabe:
Moritz, Christopher und ich haben ein bislang recht erfolgreiches Bühnenprogramm zu Ehren von Bob Dylan, seiner literarischen Lyrics und seiner Songkunst ausgearbeitet und aufgeführt. Hier sind ein paar Ausschnitte aus unserer DVD „Wie ein rollender Stein - Dylan auf Deutsch“. Ein musikalisch-literarisches Kammerpop-Programm mit Songs und Prosatexten des Literaturnobelpreisträgers 2016, in deutschen Nachdichtungen.