von Heroin bis Perfect Day
Wäre er noch am Leben, wie würde sich Lou Reed äußern zu Putins brutalem Angriffskrieg gegen die Demokratie und Freiheit in der Ukraine. Man kann es sich denken.
Lou Reed war von der Freiheitsbewegung in der Tschechoslowakei fasziniert und schätzte die literarischen Arbeiten des Dramatikers, Ex-Dissidenten und Politikers Vaclav Havel, den er 1990 zum ersten Mal in Prag traf. Danach haben sie sich noch mehrmals getroffen. Zum letzten Mal im Januar 2005, erst zu einem Benefizkonzert und dann zu einem Bühnengespräch in einem Prager Theater. Lou Reed verglich an diesem Abend die gesellschaftliche Lage mit der vor 15 Jahren und sagte:
„Als ich zum ersten Male hierher kam, hatten sich die Tschechen gerade erst daran gewöhnt, dass sie frei Musik spielen können. Nun, als ich im Benefizkonzert war, wo junge Rocker spielten, war es für mich phantastisch, die große Veränderung in Tschechien zu sehen. Die Leute können frei ihre Meinung äußern."
„Lou Reed ist der Typ, der Heroin, Speed, Homosexualität, Politik, Sadomasochismus, Mord, Frauenhass, angesoffene Passitivität und Selbstmord mit Würde und Poesie und Rock’n’Roll versehen hat“ (Lester Bangs).
„Take a walk on the wild side“ – So viele andere mit ähnlicher Drogenkarriere wurden nicht älter als 27. Lou Reed aber konnte noch das Erleben seines 71. Geburtstages feiern. Sein Gesicht war schon in seinem sechsten Lebensjahrzehnt ähnlich zerfurcht wie das von Keith Richards oder Iggy Pop. Aber er war offenbar auch ähnlich hart im Nehmen. Die Vita des zerknitterten, zerlebten, dauer-anarchistisch-avantgardistischen Überlebenden aus der Ära der Rock-Sauriere war nicht minder durchzogen von Fast-Katastrophen, Rock’n’Roll-Exzessen, künstlerischer Achterbahnfahrt und Raubbau an der eigenen Gesundheit wie bei so manch anderem Rockstar, der für dieses krasse Leben sehr viel früher mit dem Tod bezahlen musste.
Als Gründer und Hauptsongschreiber der wegweisenden Band Velvet Underground hatte er schon zwischen 1967 und 1970 Rockgeschichte geschrieben. Seine danach folgenden Soloplatten wurden sehr kontrovers diskutiert. Da war von Zumutungen die Rede, von faszinierend monströsen LP-Fehlgeburten, aber auch von großen urbanen Sittengemälden.
So gilt z.B. sein Album „Metal Machine Music“ von 1975 den einen als das „unhörbarste Werk der Rockgeschichte mit 4 Seiten schierem Lärm“, den anderen als avantgardistisches Experiment, seiner Zeit weit voraus – und ihm selbst übrigens als „schlicht geniale Blaupause für spätere Stile wie Industrial und Noise Rock“.
Auch bei der Beurteilung seines Projekts „Lulu“ (2011), das spektakulär in Zusammenarbeit mit den Metal-Heroen von Metallica entstand, schieden sich die Geister. Doch der Hardcore-Rocker Lou Reed, der es gerne krachen ließ, gab sich auch als Ästhet und sensibler Künstler: veröffentlichte zwei Bände mit Gedichten und Photographien, schrieb Balladen mit Songtexten von literarischer Qualität, machte Ausstellungen mit eigenen künstlerischen Schwarzweiß-Fotos, schrieb Theatermusik, wirkte in Filmen mit und produzierte Musik für eine Tai Chi-DVD.
Bei so viel Gegensätzlichkeit könnte man sich fragen, wer war dieser Lou Reed wirklich?. Diese Frage hatte er sich auch selbst gestellt. Im Song „Who Am I“ heißt es: “Manchmal frage ich mich, wer ich bin. Und wieviel Leben ich vertragen kann“.
https://www.youtube.com/watch?v=E4NY2rFjqYI
„Wer schuf die Bäume, den Himmel, die Stürme, den Schmerz? Ich weiß, dass ich gerne und viel träume und über andere Welten nachdenke, die nicht real sind. Ich möchte diesen Körper verlassen, um frei zu sein“, so heißt es im Text dieses Songs „Who Am I“ aus dem Album „The Raven“ von Lou Reed, das nach Textmotiven von Edgar Allan Poe entstanden ist. Der Songtext endet mit der beunruhigenden Frage, womit all das Unheil anfing – und nennt als Antwort den Judaskuss, den Verrat und die gottlose Liebe, die uns von uns selbst entfernt habe. Im Covertext des Booklets zum Album, das 2003 erschien, fragte Lou Reed: „Warum tun wir, was wir nicht tun sollten? Warum lieben wir, was wir nicht haben können? Warum entwickeln wir Leidenschaften für genau das Falsche? Und was meinen wir mit „Falsch“?
Anlässe und Auslöser zu derlei Fragen gab es bei ihm wohl schon seit frühester Jugend. Er sei schwer erziehbar gewesen und seine Eltern sollen versucht haben, ihn mit einer Elektroschock-Therapie auf den geraden Weg zu führen – was offensichtlich nicht gelang, aber eine Art von Gesichtslähmung verursachte, weshalb sein Minenspiel oftmals wie leblos wirkte.
Obwohl er nicht gerade mit einem besonderen musikalischen Talent gesegnet war und weder als Sänger noch als Gitarrist im üblichen handwerklichen Sinne überzeugen konnte, wurde der am 2. März 1942 geborene Lou Reed genau dies: Sänger, Gitarrist und Songschreiber. Gemeinsam mit dem fast gleichaltrigen, nur 7 Tage später geborenen John Cale, einem aus Wales stammenden, klassisch ausgebildeten, an Neuer Musik interessierten Bassisten und Viola-Spieler, gründete er 1964 die Garagen-Rockband The Primitives, aus der sich ein Jahr später Velvet Underground entwickelte. Protegiert von Andy Warhol stieg Velvet Underground binnen kurzem zum Darling der New Yorker Subkultur auf. Benannt nach einem Buch von Michael Leigh zum Thema Sadomasochismus mit dem Titel „The Velvet Underground“, kreierte die Band in den beiden Jahren ihrer Zusammenarbeit mit Andy Warhols Factory eine aufregende Mischung aus experimentellem Rock, Protopunk und Pop-Art.
Das Cover-Design des Debüt-Albums von „The Velvet Underground & Nico“, das 1967 veröffentlicht wurde, stammte von Andy Warhol und zeigte auf der Plattenhülle die berühmte Siebdruck-Banane, deren „Schale“ sogar abziehbar war.
Dieses Bananen-Cover machte die Band in der Popwelt sehr bekannt – auch bei Menschen, die den Musikinhalt nie gehört hatten. Aus dem Debüt-Album von 1967 stammt der Song „I’m Waiting For The Man“, geschrieben aus der Perspektive eines Käufers, der für 26 Dollar Stoff kaufen will, dafür nach Harlem gefahren ist und nun sehnlichst auf The Man, den Dealer wartet. In der Rangliste der 500 besten Songs aller Zeiten, vom Rolling Stone Magazin 2004 veröffentlicht, belegte „I’m Waiting For The Man“ Platz 159
Velvet Underground I’m Waiting For The Man The Velvet Underground & Nico
The Velvet Underground performing "I'm Waiting For The Man" during their 1993 reunion tour.
„I’m Waiting For The man“, geschrieben von Lou Reed, war einer der diversen Drogensongs von Velvet Underground. Die zur damaligen Zeit provozierenden Texte und verstörenden Musikelemente in den Underground-Songs der Band hatten einen großen Einfluss auf spätere Stilentwicklungen wie Punk, Grunge und Metal.
Mit Metallica stand Lou Reed 2009 gemeinsam auf der Bühne aus Anlass seiner Aufnahme in die „Rock and Roll Hall Of Fame“ und, weil das so gut lief, verabredete er danach eine Zusammenarbeit mit Metallica für ein Album-Projekt. Am 31. Oktober 2011 erschien das gemeinsame Album „Lulu“, textlich von Lou Reed erarbeitet nach Motiven aus dem gleichnamigen Drama von Frank Wedekind. Die Kritiker zeigten sich nicht überzeugt von diesem als „Hoch-Zeit der Rock-Giganten“ hochgepushten Zusammentreffen von Lou Reed und Metallica. Nur die BBC fand in ihrer Albumkritik versöhnliche Worte: das Album „Lulu“ sei zwar keine leichte Kost, aber vielleicht fände es mit der Zeit das Lob, das es verdiene.
Und Spiegel-Online-Kultur urteilte über „Lulu“ wie folgt. Zitat:
„Metallica-Fans, die sich wünschten, ihre Lieblingsband würde immer und immer wieder das epochal-brutale Meisterwerk ‚Master Of Puppets’ neu aufnehmen, werden ‚Lulu’ hassen. Anhänger von Lou Reed, die sich daran gewöhnt haben, ihre generelle Misanthropie in den ausgemergelten Rock-Skizzen des prototypischen Schlechte-Laune-New-Yorkers zu spiegeln, werden ‚Lulu’ hassen. Und alle anderen? Werden nur sehr schwer einen Zugang zu diesem auf zwei CDs verteilten Wahnsinn aus Gitarrenlärm, Geraune, Geschrei und Getrommel finden.
Und dennoch – ob unhörbar oder unerhört – ist es eine der interessantesten Rock-Platten, die im Jahre 2011 erschienen ist. Denn Reeds Instinkt war richtig: Die Abscheulichkeiten seiner „Lulu"-Texte entfalten ihren ganzen Horror tatsächlich erst, wenn eine Band, die mit ihren ganz eigenen Abgründen aus Alkoholsucht und unterdrückter Aggressivität zu kämpfen hatte, mit all ihrer Kraft darauf losgelassen wird.“
Und noch ein Zitat aus diesem wirklich informativen und lesenswerten Artikel über „Lulu“ von Andreas Borcholte, Zitat:
„Wedekinds Stück handelt von einer Frau, die sich gegen die gesellschaftlichen Zwänge der wilhelminischen Zeit auflehnt, ihre Sinnlichkeit auslebt und ausspielt, aber die fest gefügten Frauenbilder in den Köpfen der Männer letztlich nicht überwinden kann. Ein Freier, oft als Frauenhasser Jack the Ripper gedeutet, bringt sie und ihre lesbische Freundin am Ende um, zerfetzt Lulus Selbstermächtigung mit seinem Messer. Und wenn der Metallica-Sänger James Hetfield, der wenig von den Verhältnissen im Europa der vorletzten Jahrhundertwende weiß, aber alles über die scheinheiligen Moralvorstellungen in Kleinstadt-Amerika, wenn er im Song „Brandenburg Gate" aus voller Kehle immer wieder „Smalltown Girl" brüllt, dann schließt sich der Kreis von ganz alleine. Es ist diese Entintellektualisierung, die Reduktion auf Trieb, Lärm und Horrorbilder, die diese „Lulu" zu etwas Besonderem macht.“
Lou Reed & Metallica Brandenburg Gate Lulu
„Brandenburg Gate“ ist einer der noch gut verkraftbaren Songs des Lulu-Albums. „Viel Lärm um Nichts” überschrieb die ZEIT ihre Albumkritik zur Lou Reed- und Metallica-Kollaboration „Lulu“. Das Ergebnis der Zusammenarbeit sei selbst für abenteuerlustige Hörer eine unangenehme Herausforderung. Lou Reed sah das natürlich ganz anders: Im Interview zum Album sagte er, die Zusammenarbeit mit Metallica im Album Lulu habe nicht nur seine Erwartungen erfüllt, sondern sei weit über das hinausgegangen, was er sich zu träumen gewagt hätte. Er sei zum besten gepusht worden, was er jemals erreicht habe. Die Kritiker aber urteilten überwiegend negativ.
Das medial viel beachtete Werk, das allein durch seine bloße Ankündigung für Wirbel gesorgt habe, sei selbst für treue Fans eine Prüfung. Es ein Mal zu Ende zu hören sei schon eine Qual, es ein zweites Mal zu versuchen, unvorstellbar, hieß es in einer Rezension.
Ursprünglich hatte Lou Reed seine „Lulu“-Songs für eine Berliner Theaterinszenierung des Regisseurs Robert Wilson geschrieben. Dies war nicht seine erste musikalische Literatur-Bearbeitung. Gemeinsam mit dem Theatermacher Robert Wilson hatte Lou Reed schon im Jahre 2000 für das Hamburger Thalia-Theater das Bühnenstück „POEtry“ realisiert – eine Vertonung und Bühnenbearbeitung von Textes des US-Schriftstellers Edgar Allan Poe. Die Songs aus dieser Theaterarbeit veröffentlichte Lou Reed 2003 auf seinem Album „The Raven“.
Lou Reed „The Conqueror Worm“ - Album The Raven
Die meisten Kritiker hatten auch schon 1967 ihre liebe Not, mit dem ruppigen Sound und den anstößigen Texten des Plattenerstlings von Velvet Underground klar zu kommen. „Vom Sprengen der Hörgewohnheiten“ war die Rede, von radikalen „Klangabenteuern und weißem Lärm“, wie die ZEIT 2006 über das 1967 veröffentlichte Debütalbum von Velvet Underground schrieb.
1967, im Jahre von Sgt. Pepper und dem „Summer Of Love“, sangen fast alle anderen von Sommer und Glück, von Freiheit, Frieden und Liebe, verklausuliert auch mal von LSD und Marihuana. Aber niemand außer Lou Reed und Velvet Underground veröffentlichten einen Song mit dem Titel „Heroin“. Der Text verherrlichte das Spritzen von Heroin mit diesen Zeilen: „Ich hab keine Ahnung, wo es hingeht, aber wenn ich kann, versuche ich nach den Sternen zu greifen. Denn ich fühle mich wie ein Mann, wenn ich mir eine Nadel in die Vene stoße. Und ich kann euch sagen, die Dinge sehen danach völlig anders aus, wenn ich auf dem Trip bin und mich fühle als wäre ich Jesus’ Sohn. Ich hab die große Entscheidung getroffen, ich werde es darauf anlegen, mein Leben zunichte zu machen. Denn, wenn das Blut zu fließen beginnt, wenn es in die Spritze quillt, wenn ich dem Tod ganz nahe komme, und wenn ihr nichts mehr für mich tun könnt, auch nicht ihr süßen Mädels mit eurem süßen Gerede. Dann könnt ihr alle eine Pause machen. Ich wollte, ich wäre vor tausend Jahren geboren. Ich wollte ich würde auf den dunklen Meeren segeln auf einem großen mächtigen Segelschiff, unterwegs von einem Land zum nächsten, im Matrosenanzug mit Mütze, weg von der großen Stadt, in der ein Mensch nicht frei sein kann von all den Übeln der Stadt, von sich selbst und all den anderen. Heroin sei mein Tod. Heroin ist meine Frau und ist mein Leben. Denn ein Schuss in meine Vene führt ins Zentrum meines Kopfs. Und dann bin ich fein raus und tot. Denn wenn der Stoff zu fließen beginnt, dann ist mir alles egal, dann kümmern sie mich nicht mehr, die Spießer dieser Stadt, all die Politiker mit ihrem Gekeife und alle, die sich gegenseitig fertigmachen. Und all die Leichen, die haufenweise rumliegen.
Denn wenn das Heroin in meinem Blut ist und das Blut in meinem Kopf, dann bin ich Gottseidank so gut wie tot. Eurem Gott sei Dank, dass ich nichts mitbekomme, und Gott sei dank, dass mir alles egal ist. And I guess, that I just don’t know.”
Velvet Underground Heroin
Lou Reed Heroin Live in New York 1972
Viele verschiedene Fassungen gibt es von „Heroin“. Zur Aufnahme aus dem Album „Live In Italy“ von 1984 schrieb Lou Reed in den Liner Notes: „Zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug. Jede Band kann das spielen. Und das ist es, was ich an meinen Songs mag. Du kannst den Intelligenzquotienten einer Schildkröte haben und kannst trotzdem einen Lou Reed-Song spielen. Das liebe ich am Rock’n’Roll. Jeder kann Rock’n’Roll spielen, mich eingeschlossen. Drei Akkorde reichen mir. Ich bin nicht daran interessiert weitere Akkorde zu lernen. Ich will diese drei zur Meisterschaft bringen. Wenn die drei für John Lee Hooker gut genug waren, dann sind sie’s auch für mich.“
Die Band Velvet Underground bot 1967 mit ihren düsteren, morbiden Songs das absolute Kontrastprogramm zum „Summer of Love“, war das genaue Gegenteil zur Hippieseligkeit von Love and Peace. Die Bedeutung von Velvet Underground geht bis heute weit über die Musik hinaus, was nicht nur an Andy Warhol lag.
Vaclav Havel, der im Dezember 2011 verstorbene, ehemalige Präsident der Tschechischen Republik, war Schriftsteller und während der kommunistischen Herrschaft einer der bekanntesten Regimekritiker und Mitbegründer der oppositionellen Charta 77 in der damaligen Tschechoslowakei. Schon 1968 galt er als einer der Wegbereiter des Prager Frühlings und gehörte zu den Initiatoren der „Samtenen Revolution“ von 1989. Vaclav Havel war auch Rockfan und begeisterte sich vor allem für Frank Zappa und Velvet Underground. Von einer Amerika-Reise Ende der 60er Jahre brachte Vaclav Havel unter anderem die zweite Velvet Underground LP ‚White Light/White Heat’ mit nach Hause und machte so die Musik von Velvet Underground befreundeten Künstlern und Musikern zugänglich.
Kassetten-Kopien von Velvet-Underground- und Zappa-LPs kursierten im antisowjetischen Untergrund und führten schließlich zur Gründung der tschechischen Band ‚Plastic People Of The Universe’. Als die Musiker dieser oppositionellen Band verhaftet wurden, solidarisierten sich viele Künstler, Intellektuelle und Studenten mit den Inhaftierten. Dies war der Beginn einer breiten und aktiven Dissidenten-Bewegung, aus der heraus die Charta 77 formuliert wurde. Und dies war der Anfang vom Ende der kommunistischen Herrschaft in der damaligen Tschechoslowakei. Die gewaltfreie Revolution von 1989 ging in die Geschichte ein als die samtene Revolution, bzw. „Velvet Revolution“. Der Buchautor und Radiomann Karl Bruckmaier schrieb in seinem Buch „Soundcheck“ unter Verweis auf Velvet Underground, dass sich die Tschechoslowakei – Zitat – „in einer Velvet Revolution, wie sie passender nicht genannt werden könnte, von den stalinistischen Betonköpfen befreite.“
Vaclav Havel lud Lou Reed zum 20-jährigen Jubiläum der Velvet Revolution nach Prag ein und ehrte ihn und die außerdem geladene Joan Baez neben weiteren Künstlern mit den Worten: „Diese Künstler sind bekannt für ihr freies Denken. Sie haben immer auf der Seite der Freiheit gestanden, und viele von ihnen haben ihre Solidarität in dunkleren Zeiten ausgedrückt.“
Im April 2000 erschien sein 18. Solo-Studioalbum „Ecstasy“, dessen Coverfoto für Diskussionen sorgte. Das Foto zeigt Lou Reeds Gesicht mit einem Ausdruck zwischen Entrücktheit und Ekstase. Der Fotograf hatte Reed gebeten, hinter einem Vorhang zu onanieren, um den authentischen Moment von schamloser Ekstase einzufangen. Das Titelstück handelt von Masochismus und Obsessionen.
Lou Reed „Ecstasy“ Album Ecstasy
Das Titelstück „Ecstasy“ aus Lou Reeds Album vom Frühjahr 2000 über die Flüchtigkeiten von Ekstasen ist musikalisch überhaupt nicht ekstatisch angelegt sondern eher entspannt und hat durch das Streicherarrangement schon fast eine kammermusikalische Ausstrahlung. Für Lou Reed recht ungewöhnlich.
Der mit Abstand populärste Song von Lou Reed darf hier in diesem Blog zu seinem 80. Geburtstag natürlich nicht fehlen. Sein zweites Soloalbum „Transformer“, das im November 1972 erschien, hatte David Bowie im Stile des Glam Rock produziert. Ähnlich wie Bowie gerierte sich auch Lou Reed zu dieser Zeit im Transvestiten-Look mit androgynem Gebaren, schwarz lackierten Fingernägeln, dunkler Sonnenbrille, mächtig viel Schminke und Plateauschuhen. Der dekadenten Halbwelt des Rotlichtmilieus und der Subkulturszene setzte er ein musikalisches Denkmal mit seinem ebenso provozierenden wie lakonischen „Take A Walk On The Wild Side“, mit der typischen auf und abschwingenden Bass-Figur, dem lasziven Sprechgesang, dem ironischen Chor der Colored Girls und mit diesem Text: „Holly kam aus Miami in Florida, trampte quer durch die USA, zupfte sich unterwegs die Augenbrauen, rasierte sich die Beine und schon war er eine „sie“. Sie sagte, hey babe, mach es auf die wilde Art, Hey Süßer, mach es mal auf die wilde Art. Candy kam von der Insel drüben, im Hinterzimmer war sie jedermanns Liebling. Aber sie verlor nie den Kopf, selbst dann nicht wenn sie ihren Kopf zum Blasen hergab. Sie sagt Hey Babe, mach’s auf die wilde Art. Und die farbigen Mädchen machen: Dududu. Little Joe machte nichts umsonst, jeder musste tief in die Tasche greifen, ein schnelles Ding hier, eine schnelles Ding dort. New York ist der Ort, wo man sagt: Hey Babe mach’s mal auf die wilde Art. Jackie ist voll auf dem Trip, hielt sich einen Tag lang für James Dean, dann ist sie wohl umgekippt. Valium hätte ihr vielleicht geholfen. Sie sagte Hey Babe mach’s mal auf die wilde Tour
Lou Reed Take a walk on the wild side Album Transformer
Lou Reed (Live at Farm Aid 1985)
Diese perfekte New Yorker Halbwelt-Ballade habe Lou Reed später nur noch verhunzt, meinte der Berliner Feuilletonist Christof Meueler. Zitat: „Lou Reed sollte es später nie mehr schaffen, dieses Lied live adäquat darzubieten. Mit einfallslos genudelter Gitarre als Saxophon-Ersatz, dumpf-hardrockigem Schlagzeug mit verkrampften Fill-Ins, angeberischem E-Bass und vor allem mit seiner unpassend zittrig geröhrten Stimme macht Reed dieses Lied immer wieder neu kaputt, so wie es seine Art ist.“ – Zitatende. Dass Lou Reed seine alten Songs in Konzerten gerne laut, verzerrt und krachend spielte, hatte auch damit zu tun, dass er seine alte aggressive Rock-Energie gerne immer mal wieder aufleben lassen wollte.
Auf die Frage, ob er noch immer diese Wut und Power-Energie wie zu Zeiten von Velvet Underground wachrufen könne, antwortete Lou Reed, er könne das gezielt nutzen, er habe genug davon für die nächsten 112 Jahre. An diesen Gefühlen würde es ihm niemals mangeln.
Auch Lou Reeds LP „Street Hassle“ von 1978 wurde seinem Ruf gerecht, energiereichen Rocklärm mit ausgefallenen, unberechenbaren Experimenten zu verbinden. In seinem Buch „Soundcheck“ zählt der Musikjournalist Karl Bruckmaier das Album „Street Hassle“ zu seinen Lieblingsplatten. Warum? Das Album sei eine „Mischung aus Live- und Kunstkopfaufnahmen im Studio, wobei schwer zu sagen ist, welche mit der größeren Beiläufigkeit erledigt wurden. Im Hintergrund quengelt sich eine hart rockende Band durch zwei, drei Akkorde und hört sich dabei an, als würde eine Single auf LP-Geschwindigkeit abgespielt. Darüber honkt gelegentlich ein Saxophon. Vorne ist Lou. So cool, dass er kaum den Mund aufmacht; so aufgeschwemmt und mit Drogen vollgepumpt, dass sein Gesang hechelnd und daher übertrieben geil wirkt. Der Popstar am Scheideweg: Ertrinken oder Schwimmen. Lou Reed entschloss sich bald nach ‚Street Hassle’ zu schwimmen, zu heiraten, zum Klassiker zu werden, in den 90er Jahren sogar zum Gutmenschen. Aber zu Zeiten von ‚Street Hassle’ war ihm ein ‚issue’ noch ein Tissue, mit dem man sich den Hintern wischt. Downtown-Manhattan-Ennui (also Überdruss) at ist best.” Zitatende
Im Text des Songs „I Wanna Be Black” aus dem Album „Street Hassle“ heißt es: „Ich wär so gern schwarz. Ich wäre so gern wie Martin Luther King und möchte im Frühling erschossen werden. Ich möchte kein abgefuckter Mittelklasse-Student mehr sein.“
Lou Reed „I Wanna Be Black“ Album „Live Take No Prisoners“
Lou Reed Album „Street Hassle“
Lou Reed hielt sich selbst für einen Rock-Literaten und das ist ihm wohl auch nicht so ohne weiteres abzusprechen, schließlich weisen seine Songtexte eine besondere poetische Qualität auf. 2006 veröffentlichte er einen Gedichtband unter dem Titel „Pass Thru Fire – The Collected Lyrics“ mit seinen besten Songtexten aus 40 Jahren Kreativität.
Doch seine Stellung als literarischer Songschreiber wurde von der Fachkritik nicht gänzlich anerkannt. So blieb er zeitlebens in gewisser Weise ein Unverstandener. 1997 erschien eine Neufassung seines Liebesliedes „Perfect Day“ aus dem Album „Transformer“ von 1972, aufgenommen von einer Superstar-Riege – als Benefiz-Produktion für die Hilfsorganisation „Children In Need“.
Beteiligt an dieser Charity-Single waren David Bowie, Bono, Tom Jones, Elton John, Suzanne Vega, Emmylou Harris, Dr. John, Joan Armatrading, Boyzone und andere.. Den Songtext hatten die Produzenten für das Kinderhilfswerk aber offenbar missverstanden. Das Objekt der Liebeserklärung war alles andere als jugendfrei. Die Geliebte, der Lou Reed den von ihm besungenen „Perfect Day“ zu verdanken hatte, war nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus der getrockneten Milch des Schlafmohns. Natürlich hatte Lou Reed im Songtext nicht expressis verbis das Heroin als Grund für seinen „perfect day“ genannt.
Der Text hört sich harmlos an: „Das ist so ein perfekter Tag, ich bin froh, dass ich ihn mit dir verbracht habe. Alle Probleme haben sich verabschiedet. Du bringst mich dazu, mich selbst zu vergessen. Ich dachte ich sei jemand anders, ein guter Mensch, du hilfst mir weiterzumachen, hältst mich bei der Stange“ so lauten einige Textzeilen. Doch die Schlusszeile, die mehrmals wiederholt wird, kann einen dunklen, fast anklagenden Unterton nicht verheimlichen: „Du wirst ernten, was du gesät hast.“
Doch die ersten Zeilen, die vom Sangria-Trinken im Park handeln und vom Tiere füttern im Zoo, lassen nicht erahnen, wer oder was Lou Reed einen perfekten Tag beschert hat
Various Artists Perfect Day BB Children In Need 1997
Lou Reed war am Anfang und am Ende dieser Benefiz-Aufnahme seines Songs „Perfect Day“ kurz zu hören. Keiner der Verantwortlichen dieser Benefiz-Single für das Kinderhilfswerk „Children in Need“ hatte mitbekommen, dass die besungene Verursacherin des perfekten Tages alles andere als für Kinder geeignet war. Der Geliebten Heroin war Lou Reed über viele Jahre verfallen. Spätestens seit seiner Liaison mit Laurie Anderson, die er im Jahre 2008 heiratete, war er drogenfrei, trank vorzugsweise Mineralwasser, ernährte sich natürlich gesund und schwor auf Tai Chi.
So richtig gesund war sein Körper dennoch nicht. Er war zuckerkrank und musste immer mal wieder etwas zu sich nehmen, sonst wäre er noch grantiger und ungnädiger geworden als er ohnehin schon war. Journalisten, die die harte Aufgabe hatten, ihn zu interviewen, konnten davon ein leidvolles Lied singen. Auch das mag dazu beigetragen haben, dass Lou Reed nicht nur Freunde und Verehrer hatte. Christof Meueler heißt ein Feuilleton-Redakteur der Berliner „Jungen Welt, der nicht nur Lou Reed genüsslich in die Pfanne haut, sondern auch gleich seine Anhänger in Sippenhaft nimmt und sie ebenso niedermacht. Aus seiner gleichermaßen unsachlichen wie frech-impertinenten und dennoch amüsanten Abkanzelei hier nun ein Zitat: “Lou Reed-Anhänger sind faul, antriebsarm und eingebildet – aus Verlegenheit: Wer vom Leben nichts erwartet, liebt Lou Reed. Schüchterne Konformisten, die sich als Außenseiter begreifen, weil Lou Reed ihnen angeblich gesagt hat: Abwarten und Alkohol trinken. Oder keinen Alkohol mehr trinken und trotzdem abwarten. Sie glauben, dass die Welt so schlecht ist, dass die beste Musik, die sie hervorbringt, noch schlechter sein müsste. Eben Lou-Reed-Musik. Kaum einer hat so rührend ins schlapp geschluderte und eklig verquetschte, missratene Platten gemacht wie er. Warum? Weil er weder singen noch Gitarre spielen kann, aber glaubt, das wäre seine Berufung. Man muss ihn sich als glücklichen Luftgitarristen vorstellen. Superstarrsinnigen Erfolg hat er damit nicht gehabt. Für Reed kein Problem, hat er sich doch in der ewigen zweiten Liga so behaglich-überheblich einrichten können, weil er sich eigentlich als großer Dichter begreift. Er meint, Shakespeare oder Dostojewski zu ähneln, ist aber bestenfalls eine Dostojewski-Figur. Und zwar Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, besser bekannt als ‚Der Idiot’. Immer alles falsch machen, immer falsch lachen und es dabei richtig krachen lassen. Und weil er dabei nie gestorben ist, hat er noch vor Punk den Rock’n’Roll völlig auseinandergenommen. Aus Versehen – so wie das aufgeweckte Kind das Radio zerstört, weil es wissen will, wo die Stimme herkommt.“ Zitatende.
In diesem Pamphlet wird der arme Lou außerdem noch beschrieben als ein „auf Platten völlig neben sich Gurgelnder“. Und er wird beschimpft als ein „in Interviews irr quakender Rock’n’Roll-Idiot“
Aber damit soll es jetzt auch mal gut sein mit der Lou Reed-Beschimpfung, die natürlich völlig überzogen ist und wohl auch nicht so ganz ernst gemeint sein kann. Obwohl Lou Reed ausdrücklich auch selbst von einem Idioten singt, auf den er zulange gehört habe. In diesem balladesk beginnenden Song „Trade In“ aus seinem Album „Set The Twighlight Reeling” von 1996, dem vielleicht besten Album seines Spätwerks, heißt es weiter: „Ich traf mein neues Ich um acht Uhr morgens, das andere ging verloren. Ich will einen Umtausch, eine 14. Chance für dieses Leben. Wie konnte ich Filmen glauben, wie konnte ich Büchern glauben, aber vor allem, wie konnte ich auf solch einen offenkundigen Trottel hören. Ein Leben lang auf Arschlöcher gehört, komisch aber wahr, also muss ich sie loswerden, sagte ich mir.“
Lou Reed „Trade In“ - Album „Set The Twilight Reeling“
„Bring mich zum Fenster, sagte mein Herz zu meinem Kopf . Bitte setz mich in Flammen, damit wir neu anfangen können. Ich lag so schief, es ist schon grotesk. Und ich kann mich nicht entschuldigen, aber stattdessen kannst du alles sein, was ich nicht bin, in der Sekunde in der ich sterbe.“ So endet der Text dieses starken, spannungsvoll aufgebauten Songs „Trade In“ aus Lou Reeds hervorragendem Album „Set The Twilight Reeling“ von 1996.
Hatte er eigentlich Probleme mit dem Alter?
Das Alter sei schon eine Herausforderung, sagte Lou Reed in einem Interview zu seinem 70. Geburtstag. Aber er wolle nicht wieder 20 sein und durch all das nochmals hindurch müssen. Nicht mal, wenn man ihn dafür bezahlen würde. Auf der anderen Seite hätte er immer diesen Spruch auf Lager, die Eier würden schrumpeln, es ginge halt immer etwas verloren. Doch es sei schon etwas komisch, wenn Leute ihn interviewten, die offenbar seinen Humor nicht verstünden, was mehr über sie selbst aussage als über ihn. Sie würden also sagen, aha deine Eier sind also geschrumpelt.
Was es damit auf sich hatte, oder ob es damit etwas auf sich hatte, konnte man 2012 live auf deutschen Bühnen verfolgen. Im Juni 2012 kam der damals 70-jährige Punk-Rock-Avantgardist auf Deutschland-Tour. Es sollte seine letzte Tour bleiben. Am 27. Oktober 2013 starb Lou Reed in New York an den Folgen eines chronischen Leberversagens, was auf seinen jahrzehntelangen Alkohol- und Drogenkonsum zurückgeführt wurde.
2007 erschien sein letztes Solo-Studioalbum „Hudson River Wind Meditations“ – für viele absolut überraschend – wie der Albumtitel ankündigt: Lou Reed veröffentlichte Meditationsmusik.
Blog-Text: Volker Rebell