„Schlimmer geht’s immer“ oder: „basstscho!“

Erlebnisse in einer Unfallklinik in Österreich

von Volker Rebell

Panorama Diedamskopf

„Du blöder Hund, warum konntest du nicht besser aufpassen? Du damischer Depp! Jetzt hast du das Debakel!“ Die Selbstvorwürfe kreisen in Endlosschleife durch den Hinterkopf. Seit zwei Stunden liege ich wieder wach, wie jede Nacht, und kann die Vorwurfstiraden nicht stoppen, den lautstark schnarchenden Zimmernachbarn nicht abdrehen, die Schmerzen im kaputten Bein nicht beeinflussen und das unangenehme Druckgefühl im Rücken wegen der permanenten Rückenlage nicht mindern. Wenn mir etwas runterfällt, liegt es am Boden und ich komm nicht mehr dran. Ich kann mich kaum bewegen, darf und kann noch nicht aufstehen. Ich fühl mich erbärmlich. – Mach kein Theater, sag ich mir. Ich muss an meine Mutter denken, die mit meiner Geburt an Multipler Sklerose erkrankte und viele, viele Jahre lang wegen der fortschreitenden Lähmung ans Bett gefesselt war. Armes Mütterlein. Wie tapfer sie das ertragen hat. – Nimm dir ein Beispiel an ihr und hör auf, selbstmitleidig rumzujammern.

Am Samstag wurde ich gegen 14 Uhr in die Unfallchirurgie eingeliefert und sollte um 17 Uhr operiert werden. Es wurde dann deutlich nach 22 Uhr. Als ich – von der Narkose noch benebelt – gegen Mitternacht von einem Pfleger zurück auf Station gefahren werde, höre ich ihn freundlich aufmunternd sagen: „Alles gut gelaufen, jo, basstscho“, was leider voreilig war, wie sich am nächsten Morgen herausstellt. Was ich bei der Visite verstehe, ist, dass eine der vier Knochenschrauben, die in meiner gebrochenen Hüfte verankert wurden, um wieder zusammenzufügen, was zusammengehört, offenbar zu lang ist und sozusagen auf der anderen Seite ein wenig herausragt. Also muss ich nochmals in Vollnarkose unters Messer, um diese vorwitzige Knochenschraube durch eine kürzere auszutauschen.
„Jo, des kann scho ma bassiern, da steckt mer net drin. Aber jetzt hams dös überstanden, un jo, dös basstscho“. Der Pfleger, der mich samt Bett wieder zurück ins Zimmer fährt, gehört zu der freundlichen und redefreudigen Sorte. Es gibt da auch andere, „stumme Diener“ sozusagen, auch leicht genervte Grantler und vor allem gibt’s den Toni, den Spitzen-Entertainer unter den Pflegern. Die Krankenschwestern, von denen es offenbar wegen des Schichtbetriebes sehr viele gibt, sind allesamt, fast ohne Ausnahme, ausgesprochen freundlich, geduldig und zuvorkommend.
Mein Zimmernachbar, ein älterer Herr, ist wahrlich kein pflegeleichter Patient. Er hält die Schwestern und Pfleger ständig auf Trab. Zuhause, wo er alleine lebt, war er innerhalb von zwei Tagen gleich dreimal hintereinander gestürzt und wurde in die Unfallchirurgie zur Beobachtung und Untersuchung eingeliefert. Erkennbare Knochenbrüche oder sonstige schwere Verletzungen wurden nicht festgestellt. Aber er hat Prellungen und Blutergüsse davongetragen und leidet unter starken Schmerzen – und: unter den „Eiszapfen“, wie er seine Füße nennt.
Auch mich, seinen Zimmernachbarn lässt er an seiner misslichen Situation teilhaben. Nachts um vier schaltet er, hoffentlich ungewollt, das brüllend laute Radio ein und findet den Ausschaltknopf nicht. Erst die herbeieilende Nachtschwester beendet die Horrorlautstärke. Im Radio gab man Gloria Gaynors Hit „I Will Survive“. Danke.

Der alte Herr verfügt über ein erstaunlich vielfältiges und abwechslungsreiches Geräusche-Repertoire, tagsüber wie nachts. Bei jedem Ausatmen stöhnt er tief mit einem rasselnden Unterton, was mal klingt wie das gequälte Brummen eines waidwunden Bären, mal wie ein fisteltönendes Jammern. Immer wieder hört man von ihm brabbelndes Vor-sich-hin-Gejammere: „Ohwehohwehohweh“ in ständiger Wiederholung, doch immer wieder mal unterbrochen von einem lautstarken, energischen Ausruf: „So ein Scheißdreck!“, wonach wieder die Jammerarie folgt. Mit den Schwestern redet er einerseits in relativ normalem Tonfall, wechselt aber in ein erbarmungswürdiges Bittstellergeheule, wenn er etwas braucht: ein neues Kissen, nein, ein anderes Kissen, nein, ein spezielles Kissen; eine Kanne mit heißem Wasser, nein, nicht dieses lauwarme Wasser; Abhilfe gegen die „Eiszapfen“ an seinen Füßen und immer wieder Schmerztabletten und nochmals Schmerztabletten. Ruft jemand aus der Verwandtschaft an, fällt er sofort in einen winselnden Klagegesang, als würde sein Ende unmittelbar bevorstehen. Ist das Telefonat beendet, schaltet er sofort wieder in seine Jammerarie um: „Ohwehohwehohweh“.
Auftritt Toni.
Der Tagespfleger Toni, der leider nur selten in unserem Zimmer auftaucht, ist ein skurriler Typ. Auf das nicht endenwollende „Ohwehohweh“ des alten Herrn reagiert er mit aufmunternder Stimme: „Jojo, jammern’s nur weiter, dös hülft.“ Als der alte Herr weiter jammernd mit gebrochener Stimme antwortet: „mit mir wird’s nimmer besser“, antwortet der Toni: „wissen’s wos, sie müssen das anders sehen, positiver. Schlimmer geht’s immer“. Und damit enteilt der Toni mit breitem Grinsen und seinem typischen scharwenzelnden Watschel-Gang. Später kommt der Toni zu mir: „Do get’s a Schmerztabletten und a Magenschontabletten, bittaschön.“ Als ich dankend entgegne, dass ich keine Schmerztabletten mehr brauche und dass deshalb auch auf die Magenschutztablette verzichtet werden kann, schaut der Toni mich mit großen Augen an, verzieht das Gesicht und sagt: „soso“. Er blickt dabei auf mein Namensschild auf der Bettumrandung, holt tief Atem, setzt ein Pokerface auf und fährt fort: „Sie sind also ein Rebell.“ Atempause. „Ein schöner Name wäre auch „Held“ für Sie gewesen,“ schiebt er verschmitzt hinterher. Dann kippt seine Stimme ins höchste Fistelstimmen-Register, und er redet in schnellem Wortschwall und in eigenartigem Singsang auf mich ein. Nur, in welcher Sprache? Ich sage: „Entschuldigung, ich nix verstehen“. Worauf er sich wie ein Oberlehrer in Positur vor mir aufbaut und in halbwegs klarem Deutsch die folgenden Worte spricht: „Wir dürfen scho erwarten, dass unsere deutschen Skiunfallpatienten sich mit unserem schönen Vorarlberger Dialekt vertraut machen. Sonst kann ich ja hier nicht arbeiten.“ Breit grinsend, vor sich hinkichernd und leicht mit den Armen rudernd (an Frau Merkel erinnernd) schwebt der Toni von dannen. Was für ein Auftritt. In Gedanken spende ich tosenden Applaus.
Am Toni ist wahrlich ein Entertainer verloren gegangen. Wenn er Dienst hat, wird draußen auf dem Flur immer irgendwo gelacht. Leider kriegt man im Zimmer nicht mit, welche Späße der Toni da draußen treibt. Der Toni ist etwas untersetzt, schiebt ein gemütliches Bäuchlein vor sich her, trägt Totalglatze und pflegt eine eigenwillige Gangart: nicht nur aufrecht, sondern sogar leicht nach hinten geneigt und mit den Armen watschelnd. Wenn er den Raum verlässt, dreht er – ohne den Oberkörper oder die Schultern mitzubewegen – seinen Kopf erstaunlich weit zurück in Richtung seiner Patienten und grient dabei mit weit geöffnetem Mund. Ein starker Typ. Ein Original.

Es war so ein schöner Tag an diesem Samstag, an dem es passierte

Es war natürlich auch ziemlich voll an den Liftanlagen und auf den Hängen

„Warum musste das sein? Jetzt hast du den Schlamassel, du Vollidiot“. Die Endlosplatte der Selbstvorwürfe nudelt wieder in Dauerrotation, und ich liege mal wieder mitten in der Nacht wach, auch wegen der unangenehmen, ewigen Rückenlage und, weil mein Zimmernachbar nur bei voller Beleuchtung schlafen kann. „Wie konntest du diese Eisplatte nur übersehn, du blindes Huhn? Und warum muss ein fast 72-jähriger überhaupt noch steile Sulzschnee-Hänge runtergurken?“ – „Weil so’n bißchen Nervenkitzel Freude macht, du Spaßbremse!“ In meinem Hinterkopf rasseln die widerstrebenden inneren Stimmen aneinander. Natürlich behält die Vorwurfsstimme die Oberhand. „Warum konntest du deinen letzten Urlaubstag nicht locker ausklingen lassen, mit ein paar Kilometern Langlauf im schönen Tal, wie geplant, und mit dem Museums-Besuch, den du deiner Liebsten fest versprochen hattest? Warum musstest du unbedingt nochmal alpin fahren und ausgerechnet diesen problematischen, sausteilen Sulzhang runterrauschen, du Volldepp?“ – „Erstens, weil es nicht anders ging. Bei der Talabfahrt gibt’s halt keine Ausweichpiste. Da muss man durch. Und zweitens, weil ich’s kann!“ – „Haha, der Herr Großkotz liegt in der Unfallchirurgie mit kaputtem Bein und behauptet, er könne diesen Hang bewältigen. Sehr witzig. Und sehr unrealistisch!“ – „Die Tage zuvor bin ich den Hang ohne Probleme runtergekommen.“ – „Dass ich nicht lache! Gleich am ersten Tag bist du bei ähnlich ausgefahrener Sulzpiste wie ein Anfänger da runtergeeiert. Das hätte dir eine Warnung sein müssen, du Superdepp. Jetzt hast du dir wegen eines dämlichen Sturzes die nächsten Monate komplett kaputtgemacht, mit allen Konsequenzen. Du bist doch total bescheuert!“

Hätte ich heute doch besser nicht hier raufkommen sollen? Wäre es richtiger gewesen, mit meiner Liebsten ins Museum "Angelika Kaufmann" zu gehen, wie versprochen?

Die gnadenlose Vorwurfsstimme ist nicht zu bremsen. Aber es stimmt ja auch: dieser eine kurze Moment, dieser eine Fahrfehler auf der Eisplatte, der zum einzigen Sturz im ganzen Urlaub führte, wird mein nahes und mittelfristiges Leben auf den Kopf stellen und mich in jeder Weise massiv behindern.
Ich liege auch die ganze Zeit wach, weil mein neuer Zimmernachbar zwar alles andere als ein Jammerlappen wie sein Vorgänger ist, aber auch er entpuppt sich als variantenreicher Geräuscheproduzent. Staunend liege ich so für mich hin und werde nicht so ganz freiwillig gewahr, welche Modulationen ein geübter Schnarcher so drauf hat.
Hier in der Unfall-Chirurgie liegt er, ein massiges Schwergewicht von 130 kg, weil er zuhause auf der „Stiege“ ausrutschte und die letzten Stufen auf dem Gesäß hinunterpolterte: ratatatata! Nein, ist nicht witzig, ist schmerzhaft und hatte Folgen. Pro Stufe ein Bruch, verteilt auf beide Beine: Schienbein, Wadenbein, Sprunggelenk und Mittelfuß. Er hat nichts ausgelassen. Jetzt in der Nacht stöhnt der Mann, wenn er nicht gerade schnarcht. Und hochgradig erstaunlich, wie es sich anhört, wenn eine menschliche Masse von 130 kg Lebendgewicht versucht, sich in einem schmalen Krankenbett von der linken auf die rechte Seite zu wälzen. Ich beneide ihn jedenfalls um die, wenn auch schwer erkämpfte Seitenlage. Denn ich kann und darf nur Rückenlage und sonst nichts. Was auf Dauer einer Folter gleicht. Langsam kenne ich jeden einzelnen Druckpunkt an meinem Rücken und Hintern persönlich mit Namen.

Entspannungsübung: Denke an einen schönen, starken Baum, der allen Widernissen widersteht. Hilft's?

Wenn der Mann lautstark krachend hustet, immer im Rhythmus „äch/ächhaa“, dann denkt man unwillkürlich, so ähnlich müssen sich in grauer Vorzeit die Senner über einsame Alpentäler hinweg verständigt haben. Wenn er pupst, was er häufig tun muss, weil er das Bett noch nicht verlassen darf, dann klingt das wahlweise nach Vorderlader-Schrotflinte, Kanonenabschuss oder Donnergrollen eines Kunstfurzers. Wirklich beeindruckend. Applaus scheint mir dann doch nicht angemessen. Ich will den Mann ja auch nicht wecken. Es reicht doch, wenn ich wach liege.
Nach den verschiedenen Salven unterschiedlichen Kalibers kann der Raum schon mal nach Raubtierkäfig müffeln. Die Nachtschwester kommt herein und sagt, ob der dicken Luft: „oh“, und schaut als erstes auf ihre elektronische Anzeigetafel neben der Tür, ob eventuell ein Leck in irgendeiner der vielen Zuleitungen verantwortlich sein könnte, was nicht der Fall ist, weshalb sie sofort das Fenster aufreißt. Vielleicht drohte ja Erstickungsgefahr, man weiß ja nie ... Die frische Kühle des Vorarlberges erfüllt sofort wunderbar erquickend den Raum.

Die Gedanken schweifen hinaus - in die schöne Winterlandschaft am Vorarlberg

Der erste Satz, den mein neuer Zimmernachbar – gerade angekommen – übrigens sprach, lautete: „Hat’s hier ein WLAN?“ Nein, hat’s hier nicht. Kein Problem für den Geschäftsmann Leopold, wie er sich sogleich vorstellte; eine Stunde später hatte er sich aus seinem Büro eine WLAN-Box vorbeibringen lassen. Leopold stellt sich als patenter, freundlicher Zeitgenosse heraus, der gerne erzählt und über Gott und die Welt plaudert – besonders gern auch über sein Elektroauto mit 400 Kilometer Reichweite. Damit ist er hier im ländlichen Raum des Bregenzer Waldes ein Pionier. Seine stehende Redewendung lautet: „basstscho“. Ob eine Schwester fragt, ob das Frühstück abgeräumt werden kann, ob ein Pfleger, Hilfe anbietet, den Fernseher für ihn zu justieren, ob der Herr Oberarzt bei der Visite nach dem werten Befinden sich erkundigt, immer kommt die Antwort: „jo, basstscho!“ Auf den Physiotherapeuten des Hauses ist er allerdings überhaupt nicht gut zu sprechen. Der forderte ihn kurz nach der Operation auf, die Beine zügig zu belasten, was er auch tat. Ergebnis: jetzt hat er auch noch einen Gips. Der Herr Physiotherapeut habe wohl übersehen (was man wirklich nicht übersehen kann), dass der Patient kein Normalgewicht aufweise, sondern die frisch operierten Haxen mit stolzen 130 kg belaste. „Is der total deppert?“ Nein, in diesem Fall basst’s net.
Am Vorabend meiner Entlassung nach einwöchigem Aufenthalt erhalte ich vom Physiotherapeuten ein „Händ-aut“, das mir schon für Tag 3 versprochen worden war. Egal. Zu dem Papier, das Verhaltensregeln für den Umgang mit dem kaputten Bein formuliert, gehört auch der Ausdruck eines Röntgenbildes der medialen Fraktur meines kaputten Oberschenkelhalskopfes.

Röntgenbild meiner Hüfte links mit 4 Knochenschrauben

Bestens erkennbar sind die vier Knochenschrauben, die den gebrochenen Schenkelhals nun fixieren sollen. Und ich erkenne an der Schraubenform das Knochenschraubengewinde HB 7,3 nach DIN 58810. Mein Gott, denke ich, jetzt stecken da Schrauben in meiner Hüfte, an deren Entwicklung ich vor langer Zeit selbst beteiligt war. Denn kaum zu glauben: vor ca. 30 Jahren hat meine, vom Vater ererbte Gewindewerkzeugfabrik Johann Rebell erste Prototypen dieser Knochenschrauben geschliffen – damals noch aus hochlegiertem Chromnickelstahl (V4A) gefertigt. „Heute sind diese Schrauben aus Titan“, sagt der Herr Physiotherapeut. Ich weiß es in diesem Fall wirklich besser. Reintitan wäre viel zu weich. Die Knochenschrauben werden heute aus hochfester Titanlegierung TiAl6V4 gefertigt. Aber ich halte natürlich meine Klappe und denke mir: basstscho!.
Tags drauf, kurz vor meiner Entlassung, kommt nochmals der Toni angerauscht. „Alles Gute“, wünscht er mir und fügt grinsend hinzu. „Und dass ich Sie hier so schnell nicht wiedersehe!“ Vor sich hinkichernd enteilt er, natürlich nicht, ohne sich nochmals nach mir umzudrehen, breit grinsend und heftig mit dem Kopf nickend.
Der Toni hatte seinen Anteil daran, dass die Woche im Krankenhaus einigermaßen erträglich war – aber vor allem natürlich der wunderbare Zuspruch durch Mails, die tröstende Aufmunterung durch Anrufe, die psychologisch so wichtige tägliche Unterstützung aus der fernen Heimat: von meiner Liebsten, meinen lieben Anverwandten und den engen Freunden. Ihr habt mir wirklich sehr geholfen und tut es noch immer. Ich danke Euch von Herzen. Volker.
(Video und Fotos: Christoph Jensch. Danke Christoph)

Blick vom Diedamskopf - für mich nun ein "Schicksalsberg" ("Drama, Baby"!). Ich komme wieder. Und fahre nochmals die Sturz-Abfahrt hinunter. Und diesmal werde ich ganz sicher nicht stürzen, jedenfalls nicht an der Stelle, an der meine linke Hüfte zu Bruch ging