Patti Smith – zum 75. Geburtstag

"Visionäre Poetin, Hohepriesterin des Rock’n’Roll, Schamanin im Land der Tausend Träume",

so hat man sie genannt, die heute 75-jährige New Yorkerin Patti Smith

Patti Smith live in Finnland (Foto: Beni Köhler, CC BY-SA 3.0 <http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/>, via Wikimedia Commons)

„Jesus died for somebody’s sins, but not mine“, so lautet die berühmte erste Songzeile aus Patti Smiths Debütalbum „Horses“ von 1975, mit dem ihre Karriere als Poetin des Punkrock begann. Man nannte sie „Schamanin im Land der tausend Träume“ (Rolling Stone). Sie galt als eine Art exotische Zauberpriesterin, die wie in Trance Kontakt aufzunehmen versteht mit Göttern und Geistern des Olymp wie des Underground.
„Es ist nicht so leicht über nichts zu schreiben“, so beginnt Seite 9 der deutschen Übersetzung ihres hoch gelobten Buches von 2015 „M Train“ – was für „Mind Train“ steht, für den Zug der Gedanken. Die zitierte Zeile entspringt dem Zwiegespräch eines Tagtraumes, in dem sie einem Cowboy begegnet, der die Hutkrempe seines Stetson über die Augenbrauen gezogen hat und zurückgelehnt auf einem Klappstuhl balanciert, und dem sie antwortet: „Vielleicht ist es leichter über nichts zu reden“, worauf ihr imaginierter Gegenüber entgegnet, ohne auf sie einzugehen: „Aber wir machen weiter und hegen alle möglichen verrückten Hoffnungen. Auf ein Quäntchen Selbsterkenntnis, darauf, das Verlorene zu retten. Es ist eine Sucht, wie einarmige Banditen.“
Patti Smith war schon eine radikale Poetin, bevor sie begann, ihre Gedichte zu singen. Mit ihrer ersten Single, die im Sommer 1974 erschien, feierte man sie als „Urmutter des Punk“; eine Single, die 1989 in die Liste der „1001 Greatest Singles Ever Made“ aufgenommen wurde, enthaltend auf der B-Seite: „Piss Factory“, ihr erster eigener Song, dem ein wildes Gedicht über eine Kinderwagen-Fabrik zugrunde liegt, in der Patti Smith in jungen Jahren aus Geldnöten arbeiten musste. Und auf der A-Seite eine Underground-Version des Song-Klassikers „Hey Joe“. Mit wüster Saiten-Quälerei, ihrem begnadeten Dilettantismus an der E-Gitarre, hatte sie damit schon 1974 den Punk vorweggenommen.

Patti Smith ist Allround-Künstlerin, veröffentlicht neben ihren Platten auch Zeichnungen, Fotografien und Bücher, darunter ihre viel gerühmte Autobiographie „Just Kids“ („Die Geschichte einer Freundschaft“) von 2010 und – wie schon erwähnt – „M-Train“, der zweite Teil ihrer autobiografischen Erzählungen – ein Buch „voller Sätze, die vor Schönheit funkeln. Wer das liest, wird sich in Patti Smith verknallen“ (spiegel online). Ihr jüngstes, erneut hoch gelobtes Buch „Year Of The Monkey“ erschien 2019. Die deutsche Übersetzung wurde ein Jahr später veröffentlicht.
2016 kam Patti Smith in die Schlagzeilen durch einen Fauxpas bei der Feierlichkeit zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan am 10. Dezember in Stockholm, als sie bei ihrem Live-Vortrag des Dylan-Songs „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“, von Nervosität und ihren eigenen überstarken Gefühlen überwältigt, textlich ins Stocken geriet und den Song unterbrechen musste. Später entschuldigte sie sich und erklärte ihren Aussetzer mit „der Fülle von Emotionen und einer so starken Intensität, dass ich ihrer nicht Herr werden konnte“, wie Patti Smith in einem Essay für das Magazin „The New Yorker“ schrieb.
Manche Kritiker quittierten den Songabbruch mit dem Vorwurf der Unprofessionalität, doch die meisten Beobachter empfanden ihre Nervosität, die zu ihrem Aussetzer führte, als Zeichen von Menschlichkeit.
Was für eine Symbolik! Das Fehlen des Preisträgers und der Fehler seiner Stellvertreterin. Und dieser Fauxpas passte nicht nur zur Verleihung des Preises an den nicht anwesenden Preisträger, sondern passt auch zu dieser Künstlerin, die alles andere als perfekt und routiniert ist, sondern spontan, intuitiv und ebenso kämpferisch wie verletzlich.

Für den Sommer 2022 sind 8 Konzerte von Patti Smith und ihrer Band angekündigt. Ihr letztes Album „Banga“ erschien 2012.
Ihr 75. Geburtstag ist derzeit weltweit der Anlass für eine Würdigung dieser eigenwilligen Künstlerin, die als Vorläuferin des Punkrock galt, weil sie auf ihre E-Gitarre eindrosch, wilde schräge Klänge dem Instrument abrang. Weil sie ohne jegliche Handwerklichkeit und Spieltechnik ihre Gitarre handhabte, nur aus der spontanen Intuition heraus und von der Prämisse geleitet, dass jeder ein Künstler sein kann, wenn er oder sie es nur will. Ihre Befähigung als Künstlerin des Wortes, als radikale Poetin hatte sie bereits mit zwei Buchveröffentlichungen bewiesen, schon vor 1974, dem Jahr, in dem sie begann, ihre Gedichte zu singen, mit kantiger Rockmusik zu verbinden und mit der Attitüde des späteren Punk vorzutragen. Nach einer persönlichen und künstlerischen Berg- und Talfahrt, von Tragödien und Todesfällen gezeichnet, nach 11 Studioalben, mehreren Karrierebrüchen, dem Rückzug ins Privatleben, reüssierte sie in den letzten Jahren als viel gepriesene Schriftstellerin autobiographischer Erzählungen und blieb bis heute eine noch immer gefeierte Sängerin.
Am 30. Dezember 1946 wurde sie geboren. 70 Jahre später feierte sie ihren Geburtstag auf der Bühne der Riviera Theater in Chicago mit einem Konzert, bei dem sie von ihrer neuen Band und ihren beiden musikalisch begabten Kindern begleitet wurde. Wie sie ihren 75. Geburtstag feiert, darüber gibt ihre Webseite keine Auskunft. Das Konzertprogramm vom 30.12.2016 in Chicago, das sie auch während ihrer Tournee 2017 spielte, enthielt das komplette Songprogramm ihres Debütalbum „Horses“ von 1975, enthielt also auch ihren ersten Erfolgssong aus diesem berühmten Album, das mit der nicht minder berühmten, provozierenden Songzeile beginnt: „Jesus starb für irgendjemandes Sünden, aber nicht für meine“ .

G,L,O,R,I, A - "Gloria in excelsis deo" steckt in diesem Songtext von Patti Smith wahrlich nicht. Im Gegenteil, sie wollte sich befreien von dem Schuldbegriff, dem Sündenfall und all dem religiösen Überbau, dem sie als Kind unter dem Einfluss von Jehovas Zeugen ausgesetzt war. In späteren Interviews nahm sie Stellung zum Vorwurf, ihre berühmte Songzeile „Jesus died for somebody’s sins, but not mine“ sei blasphemisch. Sie sagte, es sei ihr um den Ausdruck ihrer persönlichen Freiheit gegangen. Nur sie selbst sei für sich, ihre Fehler und Sünden verantwortlich, niemand sonst, auch nicht Jesus oder Gott. Ursprünglich entwickelte sich der Song „Gloria“ aus einem Gedicht mit dem Titel „Oath“ (zu deutsch Schwur oder Eid), das Patti Smith schon 1970 geschrieben hatte und im Februar 1971 erstmals live vortrug
Zwei Jahre später rezitierte sie ihr Gedicht „Oath“ mit der musikalischen Begleitung von Lenny Kaye, dem späteren Gitarristen ihrer Patti Smith Group. Lenny Kay unterlegte Patti Smiths Gedichtrezitation mit Gitarrenfeedbacks und übersteuerten Sounds
(O-Ton 1973)

Lenny Kay, der hier die schrägen Gitarrensounds beigesteuert hatte, war ein Fan des Garagenrock-Sounds von „Gloria“, dem harschen, kantigen Hit von Van Morrison und seiner damaligen irischen Band Them. Als die Urformation der Patti Smith-Band 1974 im Probekeller jammte, spielte Gitarrist Lenny Kay plötzlich die Akkorde von Van Morrisons „Gloria“, während Patti Smith im Sprechgesang mit ihrem Gedicht „Oath“ experimentierte. So entstand die höchst eigene Coverversion der Patti Smith Group als Verschmelzung aus einem Gedicht von Patti Smith und dem 3-Akkorde-Riff von Van Morrisons „Gloria“. Und Patti Smith spielt diesen ihren frühen Hit aus dem Jahre 1975 auch noch im Jahre 2017, wenn sie das Songprogramm ihres Debütalbums „Horses“, das von „Gloria“ eröffnet wird, live in concert auf den Bühnen in Sydney, Melbourne und anderswo in neuer Fassung präsentieren wird. Ihr letztes Studioalbum stammt aus dem Jahre 2012 und trägt den Titel „Banga“. Was hinter diesem Namen steckt, das verriet der Kulturjournalist Jan Kedves in der Süddeutschen, Zitat:
„Wer hätte es gewusst: Banga, so heißt in Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita", einem Roman, der Patti Smith sehr gut gefallen hat, ein Hund. Sein Besitzer ist Pontius Pilatus. Keine Sekunde weicht das Tier von der Seite seines Herrchens, während Pilatus vor der Himmelspforte geschlagene 2000 Jahre darauf wartet, zu Jesus vorgelassen zu werden.“

Patti Smith & Lenny Kaye: Banga - Acoustic Version, August 2012

Banga ist das Titelstück des letzten Studioalbums von Patti Smith, das literarische Bezüge herstellt zum Roman „Der Meister und Margarita“ des russischen Schriftstellers Michail Bulgakov, im Wochen-Magazin Die Zeit gepriesen als Jahrhundertbuch. Und so geht es im jüngsten Album Banga von Patti Smith weiter. Die 12 Songs des Albums stellt sie in den großen weltumspannenden Zusammenhang einer literarischen Rahmenhandlung. Gleich mit dem ersten Song „Amerigo“, einer melodischen Midtempo-Ballade, folgt sie den Spuren des italienischen Weltenentdeckers Amerigo Vespucci auf dessen Reise des Jahres 1497 in Richtung einer Neuen Welt, wo Vespucci nicht nur die südamerikanischen Eingeborenen zwangstauft, sondern auch selbst von dem reinen Regen des südamerikanischen Regenwaldes getauft wird. Interessanterweise schrieb Patti Smith den Song „Amerigo“ 2009 an Bord des berühmt-berüchtigten italienischen Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia, das im Januar 2012 aufgrund eines verfehlten Manövers vor der italienischen Insel Giglio auf Grund gelaufen, leck geschlagen und gekentert war. 32 Passagiere waren damals ums Leben gekommen. Der unrühmliche Kapitän der Costa Concordia, Francesco Schettino, steht in allergrößtem Kontrast zum Amerika-Entdecker Amerigo Vespucci, dem Patti Smith mit ihrem Song „Amerigo“ ein musikalisches Denkmal gesetzt hat.

Die Entdecker der Neuen Welt wie Amerigo Vespucci schwankten zwischen Hybris und Begeisterung. Sie entdeckten einen neuen Kontinent und tauften als erstes die Eingeborenen. Doch die Welt, die sie betraten, war so pur und schön, dass sie selbst einen Transformationsprozess erlebten, sagte Patti Smith in einem Interview vielleicht etwas zu romantisierend über den Hintergrund ihres Songs „Amerigo“ aus ihrem letzten Studioalbum „Banga“. Patti Smiths aktuelle Konzerte sind meist eine Mischung aus Lesung und Musik, sie präsentiert sich gleichermaßen als Dichterin und Sängerin. Wie z.B. bei ihrem Konzert am Lincoln Center in New York City am 20.Juli 2016.

Der Song „Dancing Barefoot“ stammt aus dem vierten Patti Smith-Album „Wave“ von 1979. Produzent war damals Todd Rundgren. Im Songtext heißt es „Hier gehe ich, und ich weiß nicht, warum, ich drehe mich so unaufhörlich, bis ich meinen Sinn für die Schwerkraft verliere...“. Mit diesem Text, so analysierten Kenner, habe Patti Smith die Geheimnisse der gegenseitigen menschlichen Anziehung poetisch ausgedrückt, konkret die beginnende Liebesbeziehung zu ihrem späteren Ehemann. „Dancing Barefoot“ wurde im Jahre 2004 vom Magazin Rolling Stone in der Liste der 500 besten Songs aller Zeiten auf Platz 323 geführt. Etliche Coverversionen wurden von „Dancing Barefoot“ veröffentlicht, so etwa von Simple Minds, Pearl Jam und U2.
Mit ihren vier ersten Alben „Horses“ (von 1975), „Radio Ethopia“ (1976), „Easter“ (1978) und „Wave“ (1979) setzte sie Maßstäbe als singende Dichterin des Rock’n’Roll. Die Leidenschaft und Intuition, mit der sie im Studio und im Konzert damals zu Werke ging, schien ihren Tribut zu fordern. Patti Smith zog sich nach ihrem Album „Wave“ ins Privatleben zurück und meldete sich erst 1988 kurzzeitig mit einem neuen Album „Dream of Life“ zurück, um anschließend dem Popbusiness erneut den Rücken zu kehren. Als ihre große Liebe, ihr Ehemann Fred „Sonic“ Smith, ehemals Gitarrist der legendären Band MC5 und Vater ihrer beider Kinder Jackson und Jesse, im November 1994 unerwartet an einem Herzinfarkt starb, begann sie in kreativer Trauerarbeit an ihrem Comeback-Album „Gone Again“ zu arbeiten, das 1996 erschien.
Nach den unterschiedlich bewerteten Folgealben, dem dunklen „Peace And Noise“ (1997), dem politisch engagierten „Gung Ho“ (2000) und der Werkschau-Doppel-CD „Land“ (2002) kam mit „Trampin’“ 2004 wieder ein von der Kritik gefeiertes Patti Smith-Album auf den Markt. „Trampin’“ wurde unter anderem als eine Art musikalische Anti-Bush-Demonstration verstanden, ein künstlerisches Statement des „anderen, des kritischen Amerika“.

Da ist er wieder der typische schleppende punkige Garagen-Bluesrock mit den durchgeschrummten Gitarrenakkorden und da sind wieder typische Zeilen, wie diese: „Versuche dein Leben umzudrehen. Alles, was du tust, hallt wider. Sag dir, deine Zeit ist gekommen. Wo diese eine Zeit endet und wo deine Zeit beginnt, erinnere dich, Du entscheidest. Im weißen Geräusch des Begehrens hören wir keinen Ton. Die Nöte der menschlichen Seele. Die Schönheit des Immateriellen. Du entscheidest. Es ist nur Zeit, die du verbringst, es ist nur Leben, das du dir zu Nutze machst.“ So heißt es im Song „Cash“ aus dem Album Trampin’ von Patti Smith, das im April 2004 veröffentlicht wurde. Mit Songs zwischen Meditation und Anklage, Lebenshoffnung und Verzweiflung, Beschwörung und Trauer. Das Album entstand unter dem Eindruck des Terrors vom 11.9.2001 und dem Irak-Krieg. Beides hatte Patti Smith schwer mitgenommen, wie sie immer wieder betonte. Wo sie doch schon seit 10 Jahren einen schweren Weg der Trauerarbeit zu gehen hatte. Am 5. November 1994 starb, wie schon erwähnt, ihr Mann und Musik-Partner Fred Sonic Smith für sie völlig unvorbereitet an einem Herzinfarkt, wenig später starb ihr Bruder und zuvor waren schon zwei enge Freunde gestorben. Diese persönlichen Tragödien führten dazu, dass sie künstlerisch wieder aktiv wurde, sie brauchte ein Ventil, um mit den schweren Themen Tod und Verlust klarzukommen. So erschien 1996, acht Jahre nach ihrem letzten Album „Dream Of Life“ (1988) eine neue Sammlung von Songs, deren Inhalte um Vergänglichkeit und Trauer kreisten. Ein typischer Song aus diesem Album „Gone Again“ heißt „Beneath the Southern Cross“. Es ist eine Gitarrenballade, die fast monoton beginnt mit nur 2 Akkorden der Akustikgitarre, die ständig wiederholt werden. Doch diese permanente Wiederholung führt nicht etwa zu Langeweile, sondern zu einer Steigerung von Intensität. Die offenen Gitarrenakkorde treiben einerseits das Gefühl einer traurigen Melancholie vor sich her, andererseits vermitteln sie beim Streichen über die Saiten der Gitarre fast so etwas wie ein tröstendes Über-den-Kopf-Streicheln. Dazu natürlich der eindringliche Gesang von Patti Smith und ihre Worte, die den Verlust beweinen und den Blick in den Himmel richten, wo selbst die Götter verloren gehen unter dem Kreuz des Südens. Intensiver kann man das musikalisch kaum umsetzten, eine Trauer, die nicht in Tränen und Hoffnungslosigkeit versinkt

Kein Geringerer als der 1997 ertrunkene Jeff Buckley sang die lang gezogenen fast sphärischen Melodiebögen gegen Ende, und John Cale spielte die dezente Orgel. Wunderbar steigert sich diese Gitarrenballade in ihrem Verlauf, steuert emotional behutsam, aber immer intensiver auf den Punkt zu, wo Trauer und Schmerz in einer fast tranceartigen Meditation aufgelöst werden. „Beneath The Southern Cross“ heißt dieser beeindruckende Song aus dem Album „Gone Again“ von 1996, ihrem sechsten Album, in dem Patti Smith sich notgedrungen mit den Themen Tod und Trauer beschäftigen musste. Ihrem unerwartet verstorbenen Mann Fred Smith hatte sie 17 Jahre zuvor eine wunderschöne Liebeserklärung in Form einer dynamischen Rockballade geschrieben. Unter den hingekritzelten Song-Text, der auf der Innenhülle des Album „Wave“ von 1979 abgedruckt war, schrieb sie: dies ist gewidmet meinem Klarinetten-Lehrer Fred Sonic Smith. Ihn, den ehemaligen Gitarristen der 1964 in Detroit gegründeten Kult-Gruppe MC5, ihn heiratete sie ein Jahr später, um sich danach für 9 Jahre aus dem Popbusiness völlig zurückzuziehen ins Privatleben als Mutter und Frau an seiner Seite: „
Frederick heute Nacht flieg ich auf den Schwingen einer Taube ins Land der Liebe, wir erleben eine Nacht der Wunder. Frederick du bist es, mit dem ich von Sonne zu Sonne reise. Alle Träume, auf die ich so lange gewartet habe, heute Nacht werden sie wahr.“

Frederick, die Liebeserklärung an ihren späteren Mann, war der populärste Song des Albums „Wave“, auf dessen Cover Patti Smith einige Zitate drucken ließ, von Rainer Maria Rilke und William S Burroughs – und von Jean Luc Goddard den Satz: Wahrheit ist in allen Dingen, teilweise sogar im Irrtum.
Die progressive Rock-Kritik jubelte damals, Patti Smith habe Rock-Riffs und Sprach-Rhythmen zum besten Garagensound der siebziger Jahre verschmolzen, das sei „vertonte Dichtung, wahnsinnig und verwirrend und getrieben von einer unbedingten Dringlichkeit“. Michael Stipe habe kotzen müssen, als er ihr Debüt-Album „Horses“ damals hörte – vor Begeisterung. Auf dem Cover präsentierte sich Patti Smith mit androgynem Flair, posierte mit coolem Blick und männlich wirkender Kleidung. Patti Smith avancierte mit ihrem Debutalbum zum Geheimtipp und Kultstar der Rock-Subkultur und löste in New York den Trend eines schnörkellosen, aber kunstvollen Punkrock aus, der später zum New Wave mutierte und Bands wie die Ramones und Talking Heads hervorbrachte. Anders als andere zu sein, das wurde ihr schon in ihrer Schulzeit bewusst, als sie es schwer hatte, sich zu integrieren, und von den andern abgestempelt wurde als eine Mischung aus Mauerblümchen und Außenseiterin. Sie flüchtete sich in ihre Fantasiewelt, was dazu führte, dass sie kreativer war als alle anderen. Schon in frühester Jugend interessierte sie sich für Dichter und Denker wie Baudelaire und Rimbaud, William Blake und William S. Burroughs. Sie schwärmte für die Musik und Texte von Bob Dylan, Jim Morrison und Jimi Hendrix. Schon früh, während ihrer College-Zeit wurde sie schwanger, fühlte sich aber der Mutterrolle nicht gewachsen und gab ihr Kind zur Adoption frei. Als Kind hatte sie selbst zu viel Entbehrung und Armut durchlitten. In ihrer Biografie schrieb sie, ihre Eltern hätten immer Geldsorgen gehabt und ihre Geschwister hätten wegen Unterernährung im Krankenhaus gelegen. Autobiografisches floss ein in die manische Poesie ihres zweiten Albums „Radio Ethopia“ von 1976. „Kein Erlöser kann das Ende der Welt abwenden, es hat schon begonnen. Frag die Engel, während sie abstürzen“ so heißt es im Songopener des Albums „Ask the Angels“, und im zweiten Song des Albums „Ain’t It Strange“ steigert sie sich gemeinsam mit ihrer Band in eine Intensität, die so überwältigend ist, dass es fast schon schmerzt. „Ain’t It Strange“

Übersteigerte Intensität, Ekstase, Trance, alles ist in diesem Song “Ain’t It Strange” aus dem Album “Radio Ethiopia”. Im Albumopener “Ask The Angels” hatte sie es explizit formuliert: “Rock and roll is what I'm born to be and it's wild wild wild”, dieses Motto zieht sich durch das ganze zweite Album “Radio Ethiopia” von 1976 hindurch. Und dass sie für den Rock’n’Roll geboren sei, das bestätigten ihr auch die Kritiker damals mit mehr oder auch mal weniger Begeisterung. Sie sei die erste publizierende Dichterin, die ihre Poesie komplett zu Rock’n’Roll gemacht habe, schrieb die New York Times. Sie besitze Qualitäten, schrieb der Rolling Stone, die im amerikanischen Rock’n’Roll nicht mehr zu finden seien: Leidenschaftlichkeit und die Bereitschaft, überschwänglich auf den Putz zu hauen, ein Gefühl für epische Größe und den Glauben an die Musik als revolutionäre Kraft. Das Magazin Crawdaddy sah das zweischneidiger: „Sie lässt einen wieder an den Rock’n’Roll glauben, selbst wenn man sich sogar bewusst ist, dass sie eigentlich Nonsens redet. Wie alle wahren Rock’n’Roll-Visionäre ist Patti Smith eine tragische Heldin, gehandikapt durch die Besessenheit ihres Glaubens.“ – Zitatende. Ihren Glauben an die Magie von Lust und Liebe teilten 1978 aber viele Fans mit ihr. Das Hohelied auf die Nacht, die den Liebenden gehört, war im Sommer ’78 in aller Munde und aller Ohren. Von Bruce Springsteen stammte die Musik und Patti Smith schrieb den Text als Liebeswidmung für ihren Partner und damaligen Noch-Nicht-Ehemann Fred Sonic Smith. „Liebe ist ein Engel, verkleidet als Lust, hier in meinem Bett bis der Morgen kommt, denn die Nacht gehört den Liebenden, denn die Nacht gehört uns“.

Enthalten in ihrem dritten Album Easter von 1978 stieg „Because The Night“ zum populärsten Song in der inzwischen 46-jährigen Plattengeschichte von Patti Smith auf. In USA belegte die Single Platz 13, in England Platz 5, das sollte ihr höchster Chartserfolg bleiben. Erfolg als Künstlerin zu haben, das war ihr wohl immer wichtig, doch Plattenverkaufszahlen und Hitparadenplatzierungen interessierten sie weniger, wie sie erst kürzlich in einem Interview sagte. Ihr Selbstverständnis hänge nicht von den Verkaufszahlen ihrer Platten ab, sagte sie. Mit dem Rock’n’Roll habe sie angefangen, weil sie bestimmte Ideen und Überzeugungen hatte, und nicht, weil sie reich und berühmt werden wollte. Dass künstlerischer Ausdruck schon immer für sie notwendig war, um mit den Ereignissen und Phänomenen des Lebens besser klar zu kommen, das ist wohl unwidersprochen. In ihrem neunten Studioalbum Trampin’ von 2004 verarbeitete sie Ängste, Wut, Sorgen und Befürchtungen, die aus den Ereignissen vom 11. September und dem Irak-Krieg herrühren. Zum Terror vom 11. September sagte sie:
"Ich habe geschlafen und das Donnern der Flugzeuge
über mir gehört. Dann bin ich aus meiner Wohnung gerannt und habe der Katastrophe ins Auge gesehen: Menschen voller Blut, der Tod lag in der Luft.
Die Reaktion der US-Regierung macht mich traurig.
Wir haben die Rache als Antwort gewählt und den Respekt gegenüber
anderen Menschen und Kulturen über Bord geworfen. Das Blut klebt auch an unseren Händen. Ich bin sehr besorgt."

Wo Kinder spielen, da herrscht Friede. Vielleicht soll diese kleine Szene am Ende des Songs „Peaceable Kingdom“ das aussagen. „Vielleicht sind wir eines Tages stark genug dafür“ heißt es im Text. Von einem friedfertigen Königreich träumt sie in dieser, für Patti Smith ungewöhnlich soften Ballade „Peaceable Kingdom“ aus ihrem Album Trampin’. Im sich unmittelbar danach anschließenden 12-Minuten-Titel „Radio Baghdad“ beschäftigt sie sich dagegen sehr viel realistischer, auf musikalisch beunruhigende Weise mit dem Kriegsalltag im Irak. In einem Interview mit dem Rolling Stone erläuterte sie, welche Bilder sie bei der Entstehung des Titels „Radio Bagdad“ im Kopf hatte: „Dieses Bild stieg in mir auf: ein Junge in Bagdad, der sich aus irgendwelchem Kriegsschrott sein eigenes Radiogerät bastelt. Doch in der Nacht, in der wir das Stück aufnahmen, hörte ich auf einmal eine andere, weibliche Stimme. Ich stellte mir vor, eine Mutter zu sein, die nicht weiß, ob ihre Stadt morgen noch stehen wird, aber inmitten all des Terrors versucht, ihr Kind in den Schlaf zu singen. ‚Radio Bagdad’ ist wie die zerklüftete Landschaft meiner Gedanken. Die Sachen, über die ich nachdenke, die ich gelernt habe, die mich ärgern und mir Angst machen.“

Manche ihrer Texte sind wegen der lyrischen Verschlüsselung und wegen literarischer Querbezüge nicht leicht zu verstehen. So handelt ihr Song „My Blakean Year“ von ihrer Begeisterung für den Dichter William Blake, der für sie eine Art Vorbildfunktion hatte, wohl auch weil sie eine Seelenverwandtschaft zu ihm empfindet. So wie sie selbst hatte auch er schon in jungen Jahren Visionen, für die er als Kind ausgelacht und verprügelt wurde. Trotzdem hielt er sein Leben lang daran fest, selbst auf die Gefahr hin als Spinner abgetan und missachtet zu werden. Zu seinen Lebzeiten verkauften sich seine Bücher nicht, er lebte und starb in bitterer Armut. Was sie von William Blake gelernt habe, sagte sie in einem Interview, sei: Gib niemals auf und erwarte nichts.

Im Song “My Blakean Year” aus dem Album Trampin’ von 2004 beschäftigt sich Patti Smith mit der Dichtung von William Blake. Im Text heißt es: „Die eine Straße ist mit Gold gepflastert, die andere Straße ist nichts weiter als eine Straße“.
Zum Lager der literarisch ambitionierten und oppositionellen Intellektuellen New Yorks zählt sie schon seit ihrem Debütalbum, in dem sie, wie ein Kritiker schrieb, „die schiere Lust am Anderssein verdichtete zu visionärer Lyrik und fiebrigem Rock’n’Roll“.
Als Ankündigung ihres Geburtstagskonzertes am 30. Dezember 2016 schrieb Patti Smith: „Und all die Dinge, die ich gesehen und erlebt und erinnert habe, werden in mir sein, und die Reue, die ich so schwer empfunden habe, wird sich fröhlich mischen mit all den anderen Momenten. 70 Jahre voller Momente, 70 Jahre menschlich Sein." Zu ihrem 75. Geburtstag wurde bislang nur dieses Statement bekannt:
„I wish I could give New York City the key to me“, sagte Patti Smith am 28.12.2021 anlässlich der feierlichen Überreichung des Schlüssels der Stadt an sie durch Bill de Blasio, den Bürgermeister von New York City, aus Anlass ihres 75. Geburtstags.

Patti Smith 2012 (Foto: Thesupermat, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons)

Zum Songprogramm ihres zehnten Studioalbums „Twelve“ von 2007, das 12 Coverversionen von großen Songklassikern der Rockgeschichte enthält, gehört auch ihre Neufassung des Jagger/Richards-Referenzsongs „Gimme Shelter“ aus dem Stones-Album „Let It Bleed“. Der Songtext könnte auch von ihr stammen. Wegen der Suche nach Schutz vor lebensbedrohlichen Naturgewalten, vor Krieg, Vergewaltigung und Mord, die nur einen Schuss entfernt sind. Und mit der Wende am Schluss: „Liebe, Schwester, ist nur einen Kuss entfernt.“
(Der überwiegende Teil dieses Blog-Textes enstammt dem Manuskript meiner früheren Radiosendungen über Patti Smith. Volker Rebell)

Buchcover

Patti Smith: "Im Jahr des Affen".
Aus dem Englischen von
Brigitte Jakobeit.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2020. 208 S., geb.

Leseprobe

Im äußersten Westen

Es war weit nach Mitternacht, als wir vor dem Dream Motel hielten. Ich bezahlte den Fahrer, vergewisserte mich, dass ich alles hatte, und klingelte, um die Besitzerin zu wecken. Es ist drei Uhr nachts, sagte sie, gab mir aber trotzdem den Schlüssel und eine Flasche Mineralwasser. Mein Zimmer befand sich im untersten Stockwerk, mit Blick auf den langen Pier. Ich öffnete die Glasschiebetür und hörte das Rauschen der Wellen, begleitet vom leisen Bellen der Seelöwen, die ausgestreckt auf den Planken unter dem Kai lagen. Gutes neues Jahr!, rief ich. Gutes neues Jahr, wachsender Mond und telepathisches Meer.

Auf der gut einstündigen Fahrt von San Francisco hierher war ich hellwach gewesen, jetzt plötzlich fühlte ich mich schlapp. Ich zog den Mantel aus und ließ die Schiebetür einen Spalt offen, um den Wellen zu lauschen, fiel aber sofort in einen schlafähnlichen Zustand. Ich wachte jäh auf, ging ins Bad, putzte mir die Zähne, zog die Stiefel aus und legte mich ins Bett. Vielleicht träumte ich.

Neujahrsmorgen in Santa Cruz, ziemlich ausgestorben. Auf einmal überkam mich das Verlangen nach einem besonderen Frühstück: schwarzer Kaffee und Hafergrütze mit Frühlingszwiebeln. Die Chancen dafür standen hier nicht gut, aber eine Portion Eier mit Schinken würde es auch tun. Ich nahm meine Kamera und ging den Hügel hinunter Richtung Pier. Ein Schild, halb verdeckt von hohen, schlanken Palmen, ragte vor mir auf, und ich stellte fest, dass es gar kein Motel war. Auf dem Schild stand Dream Inn, und in der rechten Ecke prangte ein Strahlenkranz, der an die Sputnik-Ära erinnerte. Ich blieb stehen, um das Schild zu bewundern, und machte ein Polaroid, zog die Folie ab und steckte das Bild in meine Tasche.
Vielen Dank, Dream Motel, sagte ich, halb an die Luft, halb an das Schild gerichtet. Es heißt Dream Inn!, korrigierte das Schild.

– Stimmt, sorry, sagte ich, leicht überrascht. Geträumt habe ich trotzdem nichts.

– Ach ja? Nichts?

– Nichts!

Ich kam mir vor wie Alice im Wunderland beim Verhör durch die Wasserpfeife rauchende Raupe. Um mich der prüfenden Energie des Schilds zu entziehen, senkte ich den Blick auf meine Füße.

– Trotzdem, danke für das Bild, sagte ich und wollte mich davonmachen.

Mein Weitergehen wurde jedoch durch das plötzliche Aufpoppen lebhafter Tenniel-Bilder vereitelt: Die falsche Suppenschildkröte. Der Fisch-Lakai und der Frosch-Lakai. Der Dodo, geschmückt in seinem einen prächtigen Jackenärmel, die hässliche Herzogin und der Koch, und schließlich Alice, die mürrisch eine endlose Teegesellschaft leitete, bei der, Verzeihung, kein Tee serviert wurde. Ich überlegte, ob die plötzliche Bilderflut selbst verschuldet oder der magnetischen Aufladung des Dream-Inn-Schilds zu verdanken war.

– Und was machst du jetzt gerade?

– Das ist mein Verstand!, rief ich entnervt, während die animierten Bilder sich rasend schnell vermehrten.

– Der wache Verstand!, gluckste das Schild triumphierend.

Um das Ganze zu stoppen, drehte ich mich weg. Aufgrund meines leichten Auswärtsschielens sehe ich tatsächlich oft, meistens rechts, solche hüpfenden Bilder. Außerdem ist mein Gehirn in vollem Wachzustand für alle erdenklichen Signale empfänglich, doch das wollte ich keinesfalls einem Schild gestehen.

– Ich habe nicht geträumt!, rief ich stur zurück und ging den Hügel hinunter, flankiert von flottierenden Salamandern.

Am Fuß des Hügels war ein niedriger Laden, auf dessen Fenster in ziemlich großen Buchstaben das Wort Kaffee stand, darunter ein Schild mit der Aufschrift Geöffnet. Wenn man dem Wort Kaffee so viel Platz einräumt, dachte ich, servieren sie bestimmt eine ziemlich gute Bohne und vielleicht sogar Donuts mit Zimt. Als ich jedoch die Hand auf den Türknauf legte, baumelte da ein kleineres Schild: Geschlossen. Keine Erklärung, kein In zwanzig Minuten zurück. Mich beschlich eine böse Vorahnung. was die Aussichten auf Kaffee anging, und eine noch bösere in Bezug auf Donuts. Wahrscheinlich lagen die meisten Leute noch mit einem Kater im Bett. Man kann es einem Café nicht verübeln, wenn es am Neujahrstag geschlossen bleibt, auch wenn Kaffee eigentlich das ideale Heilmittel nach einer durchfeierten Nacht wäre.

Ohne Kaffee setzte ich mich auf eine Bank vor dem Café und ging noch einmal die Ränder der vorigen Nacht durch. Es war der letzte von drei aufeinanderfolgenden Abenden, die wir im Fillmore in San Francisco auftraten, und ich zupfte gerade die Saiten meiner Stratocaster, als sich ein Typ mit fettigem Pferdeschwanz vorbeugte und auf meine Stiefel kotzte. Das letzte Röcheln von 2015, ein Sprühregen von Erbrochenem zur Einführung in das neue Jahr. Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? In Anbetracht der Weltenlage schwer zu sagen. Mit solchen Gedanken beschäftigt, suchte ich in meinen Taschen das Zaubernuss-Tuch, mit dem ich normalerweise meine Kameralinse reinigte, kniete mich hin, wischte meine Stiefel ab und wünschte ihnen ein gutes neues Jahr.

Auf dem Rückweg ins Motel schlich ich vorsichtig an dem Schild vorbei, als eine Kette von merkwürdigen Wendungen aufblitzte. Ich suchte in meinen Taschen nach einem Bleistift, um sie aufzuschreiben. Aschgraue Vögel umkreisen die nachtbepuderte Stadt / Verlassene Wiesen, geschmückt mit Dunst / Ein mythischer Palast, der nur ein Wald war / Blätter, die lediglich Blätter sind. Das dichterische Einfallslosigkeits-Syndrom verlangt, dass man Ideen aus der launischen Luft pflückt wie Jean Marais in Cocteaus Orpheus, der sich am Stadtrand von Paris in einer alten Garage in einem ramponierten Renault verschanzt, das Radio einschaltet und Satzfetzen auf kleine Zettel schreibt – ein Tropfen Wasser enthält die Welt etc.

Zurück in meinem Zimmer, fand ich ein paar Tütchen Nescafé und einen kleinen Elektrokocher. Ich machte mir Kaffee, wickelte mich in eine Decke ein, öffnete die Schiebetür und setzte mich auf die kleine Veranda mit Blick auf das Meer. Eine niedrige Mauer blockierte teilweise die Aussicht, aber ich hatte meinen Kaffee, hörte die Wellen und war halbwegs zufrieden.

Dann dachte ich an Sandy. Eigentlich sollte er hier sein, nur ein paar Zimmer weiter. Wir hatten uns vor den Auftritten im Fillmore treffen und die üblichen Dinge tun wollen: im Caffè Trieste Kaffee trinken, im City Lights Bookstore Bücherregale durchstöbern, über die Golden Gate Bridge fahren und die Doors, Wagner und Grateful Dead hören. Sandy Pearlman, ein Freund, den ich seit über vierzig Jahren kannte, der in kurzen schnellen Sätzen Wagners Ring-Zyklus oder ein Riff von Benjamin Britten zerlegte, war immer da, wenn wir im Fillmore spielten, saß in seiner schlabbrigen Lederjacke und Baseballcap vor einem Glas Gingerale an seinem gewohnten Tisch hinter einem Vorhang nahe der Garderobe. Geplant war, dass wir uns nach dem Konzert am Silvesterabend absetzen und noch spät durch den dichten Nebel nach Santa Cruz fahren, um am Neujahrstag in seinem geheimen Taco-Lokal nicht weit vom Dream Motel zu Mittag zu essen.

Doch so weit kam es nicht. Sandy war am Tag vor unserem ersten Konzert bewusstlos auf einem Parkplatz in San Rafael gefunden und mit einer Hirnblutung in ein Krankenhaus in Marin County gebracht worden.

Am Morgen unseres ersten Konzerts gingen Lenny Kaye und ich in die Intensivstation in Marin County. Sandy lag im Koma, überall Schläuche, eingehüllt in gespenstische Stille. Wir standen je auf einer Bettseite und nahmen uns in Gedanken vor, bei ihm zu bleiben, eine Leitung offen zu halten und jedes Signal aufzufangen und anzunehmen. Nicht nur Scherben der Liebe, wie Sandy sagen würde, sondern das ganze Glas.
Wir fuhren in unser Hotel in Japantown zurück, kaum fähig zu sprechen. Lenny nahm seine Gitarre, und wir gingen ins On the Bridge, eine Kneipe, die sich an einem Verbindungssteg zwischen dem Ost- und Westteil der Mall befand. Dort saßen wir hinten an einem grünen Holztisch, beide starr vor Entsetzen. An den gelben Wänden hingen Poster von japanischen Mangas, Hell Girl und Wolf’s Rain, und Reihen von Comics, die eher Taschenbuchromanen glichen. Wir aßen, teilten uns feierlich einen Sake und brachen dann zum Soundcheck im Fillmore auf. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu beten und ohne Sandys begeisternde Präsenz zu spielen. Wir stürzten uns in den ersten von drei Abenden voller Feedback, Poesie, improvisierter Tiraden, Politik und Rock’n’Roll, spielten so hart, dass ich am Ende atemlos war, als könnten wir Sandy durch Schall und Musik erreichen.

Am Morgen meines neunundsechzigsten Geburtstags gingen Lenny und ich wieder ins Krankenhaus. Wir standen an Sandys Bett und schworen, ihn trotz aller Verpflichtungen nicht allein zu lassen. Lenny und ich sahen uns an, wir wussten beide, dass wir nicht bleiben konnten. Wir mussten arbeiten, Konzerte geben, unser Leben leben, egal wie nachlässig. Wir waren gezwungen, meinen neunundsechzigsten Geburtstag im Fillmore ohne ihn zu feiern. Am Abend, als wir If 6 Was 9 spielten, drehte ich der Menge während des Instrumentalteils den Rücken zu und kämpfte mit den Tränen, während ein Wortschwall sich über den nächsten legte und mit Bildern von Sandy vermischte, der noch immer bewusstlos auf der anderen Seite der Golden Gate lag.

Impressum

Titel der Originalausgabe: Year of the Monkey, erschienen bei Alfred A. Knopf, New York, Toronto Year of the Monkey

© 2019 by Patti Smith

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit

© 2020, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Covergestaltung: Rudolf Linn, nach dem Originalumschlag von Kelly Blair für Penguin Random House