50 Jahre Rebell im Radio

Am 26. Oktober 1970 lief meine erste Radiosendung in hr2

Der Versuch einer Rekonstruktion meines Radio-Debüts als Blog

it was fifty years ago today
Meine allererste Radiosendung mit eigenem Thema, eigener Moderation und eigener Musikauswahl wurde am 26. Oktober 1970 in hr2 ausgestrahlt – innerhalb der Sendereihe „Teens-Twens-Top-Time“. Der verantwortliche Redakteur war damals Christopher Sommerkorn, der mich schon eine ganze Weile kannte und mir bei der Gestaltung der Sendung dankenswerterweise völlig freie Hand ließ. Ich war damals 23 Jahre alt, hatte keinerlei Ausbildung als Musikjournalist oder Radiosprecher und durfte trotzdem einfach loslegen.
Es gibt leider keinen Mitschnitt dieser Sendung. Aber ich habe noch einen Großteil meiner Manuskript-Aufzeichnungen gefunden, aus denen ich hier nun versuche, diese meine Radiopremiere, die ein halbes Jahrhundert her ist, als Blog wiederzugeben.

VR, 1970

Musik: Jingle Thema „Teens Twens Top Time“

Moderation: Die offiziöse, förmliche Begrüßung muß sein. Die Höflichkeit gebietet, daß man jeden anwesenden einzeln und persönlich begrüßt. Also: Guten Abend, Guten Abend usw. ...

Musik: Eingangsthema

Moderation: Guten Abend, Guten Abend usw. ...

Musik: The Witch - The Rattles

Moderation: Flog doch da just ’ne Hexe an unseren Ohren vorbei. „The Witch“, die Hexe, von den Rattles. Freunde, wir haben heute furchtbar viel vor, alles kein Hexenwerk, aber wir wollen uns mit einem recht problematischen Themenkomplex auseinandersetzen. Aber vielleicht setzen wir uns erst einmal zusammen, greifen der Uhrzeit voraus und lassen uns akustisch einhüllen von der „Schwarzen Nacht“

Musik: Black Night - Deep Purple

Moderation: Stürzen wir uns hinein in unser heutiges Thema, das wie gesagt einigermaßen schwierig wird. Bei komplizierter Aufgabenstellung beginnt man gewöhnlich bei Adam und Eva. Nun, wir wollen das oftmals klemmende Rad der Geschichte nicht ganz so weit zurückdrehen, zumal ich heute Muskelkater habe. Beginnen wir in der Prähistorie mit dem Neandertaler.

Musik: Neanderthal Man - Hot Legs
mit Text-Ein- und Ausblende, drüber: „Ach is des e schee Musick, is des net e wunnerschee Musssik, etc ...“

Moderation: Es gibt Leute, die freuen sich total über Musik wie zum Beispiel „Neanderthal Man“ von den Leuten mit den heißen Lenden, den Hot Legs. Andere hingegen ereifern sich und gebrauchen Worte wie „niveaulos“ oder „dümmlich“. Andere wiederum meinen, Musik sei, wie alles im Leben, Ansichtssache, oder, um anstrengendem Nachdenken aus dem Wege zu gehen sprechen sie von Geschmackssache. Ob Musik, wie alles im Leben, tatsächlich Sache des Standpunktes oder Sache des Geschmacks ist – schmatzt da jemand? – darüber sollten wir uns Gedanken machen. Wir wollen uns also beschäftigen mit einer kritischen Musikbetrachtung. Doch dabei geht es – und dies gleich vorweg – nicht um Bewertungsmaßstäbe, noch viel weniger um Werturteile. Es soll also nicht die dubiose Frage gestellt werden, was ist gute, was ist schlechte Musik. An solch einer Frage würde man sich ohnehin wahrscheinlich in mancher Beziehung die Zähne ausbeißen; und das hätte ja fürchterlich folgenschwere Auswirkungen: man stelle sich einen Rundfunksprecher mit zahnlosem Mund vor, haha ..

Musik: Whisky Train - Procol Harum

Moderation: Ist nun diese Aufnahme von Procol Harum, die sich nennt „Whisky Train“ musikalisch anspruchsvoller oder grob gesagt besser als der Titel davor „Neanderthal Man“?
Nun, die Kategorien gut/schlecht, richtig oder falsch, schwarz oder weiß, die keinen Raum für Differenzierung lassen, sind für unsere Untersuchung nicht hilfreich. Wo sollte unser analytischer Blick ansetzen? Vielleicht zwei Beispiele: Beispiel 1, Frank Zappa und die Mothers of Invention mit „We are the other people“

Musik: Mother People - Mothers Of Invention

Moderation: Kontrastbeispiel 2, eines der kommerziellsten Beatles-Produkte

Musik: Obladi Oblada - The Beatles

Moderation: Es fällt uns leicht zu unterscheiden zwischen kompliziert strukturierter Musik:
(kurze Einblendung: Zappa/Mothers-Thema)
und einfacher musikalischer Grundstruktur:
(kurze Einblendung: Obladi Anfang)
Jetzt muss natürlich die Frage gestellt werden, warum sollte komplizierte Musik wertvoller sein als schlichte, einfache Musik? An diesem Beispiel wird deutlich, daß die Fragestellung, in dieser Weise formuliert, uns keine befriedigende Antwort ermöglicht. Tja, was tun? – Ein Vorschlag: bevor wir weitere Denkschritte unternehmen, legen wir doch an dieser Teilstrecke eine kurze Pause ein. Und lassen wir uns die durchfurchte Denkerstirn ebnen von einem geglätteten McCartney-Song „Maybe I’m Amazed“, in dem es heißt: „Baby I’m a man, who’s in the middle of something, that he doesn’t really understand.“ - „Baby, ich stehe mitten in einer Problematik, die ich wirklich nicht ganz verstehe“ – trostvolle Worte.

Musik: Maybe I’m Amazed - Paul McCartney

(folgende Hintergrundmusik: Uncle Meat - Frank Zappa)
Moderation: Einigermaßen erholt hoffentlich stehen wir nun vor der Frage, welche Begriffe sind geeignet, uns weiterzuhelfen in unserer musikanalytischen Betrachtung? Wir haben festgestellt, die Kategorien gut/schlecht sind nicht angebracht, die Unterscheidung zwischen komplexer Musik und einfacher führt uns auch nicht weiter. Hm... Es könnte jetzt eine These aufgestellt werden, die da lautet: Musik hat eine inhaltliche Aussage, die fortschrittlich aber auch konventionell sein kann. Bumm! Das steht jetzt erst mal so im Raum. Frage: kann Musik ebenso eindeutig inhaltlich sein wie das Wort? Es gibt in der Sprache genug Floskeln, Phrasen, Klischees, Stereotype, Verallgemeinerungen, Vorurteile, über deren Gefährlichkeit wir uns sicher alle einig sind. Nun die konkrete Frage, gibt es in der Musik ähnlich vorgeprägte Chiffren, ähnlich „gefährliche“ Klischees, die durch vielfache Wiederholung eindeutig Oberflächlichkeit vermitteln? Gleich ein Beispiel. Doch zuvor ein kurzes Stück Musiktheorie: Die drei tonalen Hauptfunktionen, Tonika, Dominante und Subdominante sind die meist gebrauchten und verbrauchten Strukturelemente der zeitgenössischen Schlagerkompositionen. Ganz abgesehen von deutschen Schnulzenproduktionen, die oft, nicht oft genug, angegriffen werden – zu recht sicherlich – kann man auch etliche Popbeispiele zusammentragen, um aufzuzeigen, wie abgegriffen die üblichen Musikschemata sind. Hierzu ein Spottpourri.

Musikmontage: (jeweils nur Refrain von):
Hang On Sloopy
Sweets For My Sweet
Wild Thing
Hey You Get Off Of My Cloud
Twist And Shout / La Bamba

Moderation: Um noch deutlicher vorzuführen, daß es sich bei all diesen Beispielen jeweils um den gleichen einfallslosen harmonischen Ablauf handelt, sollten wir uns die folgende Collage aufmerksam anhören.

Musikmontage: (wie zuvor, jeweils nur Refrain, und nun mit Gitarre die Akkorde live dazuspielen)

Moderation: Das ist das Erfolgsrezept eines Hitkomponisten: man nehme ein übliches Musikschema. das die Leute bereits zur Genüge kennen, etwa die drei Kadenzakkorde Tonika, Dominante und Subdominate, wie gerade gehört, variiere dieses Schema geringfügig in der Melodik und Rhythmik – je geringfügiger die Veränderung umso erfolgsträchtiger und gewinnbringender, ganz klar – verbräme das Ganze mit HIFI-Technik und stopfe es den Leuten von früh bis spät tüchtig, tüchtig in die Ohren. Dass dieses permanent wiederholte Zeug uns nicht ständig hochkommt oder zumindest aus den Ohren quillt, ist wirklich zu verwundern.
Noch’n Beispiel: Ex-Beatle Paul McCartney, einer der großen Komponisten der Popszene, wie er oft genannt wird, schrieb für sein Solo-Album folgende Musik:

Musik: Hot As Sun - Paul McCartney (ca. 1:30 lang)

Texteinblendung (Overtalk): Na wie geht’s wohl weiter?
Musik: Waldeslust, nur kurz anspielen)

Texteinblendung (Overtalk): Nein, nein, nicht ganz .., aber vielleicht ist das die Fortsetzung des Gleichen?
Musik: Mendocino, nur kurz anspielen

Texteinblendung (Overtalk): Ja, ja fast ... noch ein Versuch ..,
Musik: ?? (leider in den Orginalunterlagen nicht notiert)

Texteinblendung (Overtalk): Ja Hurra, geschafft!
Musik: Hot As Sun - Paul McCartney (bis zum Ende)

Moderation: Paul McCartney - Hot As Sun, Heiß wie die Sonne - zum in Ohnmacht fallen, aber sicher nicht wegen Hitzschlag, auch nicht vor Begeisterung, sagen die einen. Zum Verlieben schön, melodisch und gefällig, sagen andere. Doch mit dem Prädikat "melodisch" und "gefällig" wird Musik nur dann ausgezeichnet, wenn sie sich im Rahmen der üblichen, allgemein als schön empfundenen Harmonik bewegt. Alles was außerhalb der tradierten Standards steht, was fremd und ungewohnt für unsere konditionierten Ohren klingt, kann nicht melodisch schön sein. das heißt: konservatives Musikempfinden, das Musik nur an bereits vorhandenen, allseits bekannten Standards mißt, führt zwangsläufig zu Musikschablonen und Klischees, die es zu überwinden gilt, wenn man an Neuem in der Musik interessiert ist. Und neu ist wirklich nichts am neuen, ach so schönen, melodischen Bubblegum-Song der Archies, "Over And Over" - Wenn’s nur schon over wär' ...

Musik: Over and Over - The Archies

Moderation: Heile Allerweltsmusik, die sofort ins Ohr geht, weil sie schon längst drin ist. Diese Musikschablonen, die in erschreckendem Ausmaß vervielfältigt werden, sind auf Grund ihrer Banalität wohl nicht geeignet, differenzierende Inhalte, sprich Problembewusstsein zu transportieren. Dazu bedarf es anderer, adäquater Musik. „Kein Akkord ist häßlich genug“, meint Frank Zappa, „um alle Scheußlichkeiten zu kommentieren, die von der Regierung in unserem Namen verübt werden.“
Au Backe, das ist heute aber eine ernsthafte Sendung. Mancher wird jetzt sagen: das ist ja gar keine Unterhaltungssendung, wird fluchen und wird meinen: ich hab Feierabend und will mich entspannen. Zack! haben wir schon wieder ein Argument. Danke schön. An einer solchen Aussage wird nämlich deutlich, wie sehr bei uns Musik inhaltlich verstanden wird: Musik zur Unterhaltung, zum Entspannen, zur Erbauung. Nun denn, wollen wir endlich mal unsere Kunden zufrieden stellen – mit Simon und Furunkel: „just trying to keep my customers satisfied“. Drei, vier, entspannt Euch.

Musik: Keep The Customer Satisfied - Simon and Garfunkel

Moderation: Am Phänomen Rock’n’Roll läßt sich unsere erarbeitete These von der Inhaltlichkeit der Musik und der Oberflächlichkeit der immerwiedergekauten Musikschablonen nochmals sehr anschaulich darstellen. Rock’n’Roll, vom Blues direkt doch simplifiziert abgeleitet, lautstark, naiv, Trivialmusik, doch eindeutig von der aufbegehrenden Jugend der 50er Jahre getragen und geliebt. Ihre Protestaktivitäten neutralisierten sich jedoch im sich austobenden Rock’n’Roll-Tanz und durch einzelne Randale bei Konzerten. Die augenblickliche, von kommerziellen Institutionen proklamierte Wiedergeburt des altersschwachen Rock’n’Roll ist der krampfhafte Versuch der Musikverwertungskonzerne, jugendlich Popkonsumenten auf ein verstaubtes, von den Motten gezeichnetes Modeklischee Anno 1958 zu fixieren. Die folgende Single demonstriert eindringlichst die musikalische Dürftigkeit des Rock’n’Roll. Besonderen Dank gebührt deshalb der ausführenden Band Dave Clarke Five, die im November 1969 die Single „Play Good Old Rock’n’Roll“ auf den Markt brachte und damit die beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten des Rock’n’Roll als Hitverschnitt durch Zusammenfassung und Komprimierung uns deutlich vor Augen und Ohren führt

Musik: Good Old Rock’n’Roll - Dave Clark Five


(Anmerkung 26.10.2020: Am Anfang und Ende der Original-Single war Publikums-Atmo/Jubel/Applaus eingeblendet)

Moderation: Die Produzenten dieser Single waren gut beraten, als sie sich entschlossen, Applaus von Band und damit Suggestivbegeisterung am Anfang und Ende des Titels miteinzuweben. Denn wenn sich aus dem Publikum kein Applaus herausmanipulieren läßt, muß man sich doch wenigestens selbst beklatschen.
Daß selbst eine so genannt Progressive Gruppe wie Ten Years After nicht über stupiden Rock’n’Roll hinauskam, zumindest nicht während des Woodstock-Festivals, läßt sich belegen. Bitte schön.

Musik: I’m Going Home - Ten Years After
Textübersetzung drüber: Ich geh heim mein Kind, ich geh heim mein Kind, ich geh heim mein Kind, usw

Moderation: Klingt wie vor 10 Jahren. Ten Years After. „I’m Going Home“. Wir gehen jetzt auch bald heim. Am Beispiel des Rock’n’Roll haben wir nochmals feststellen können, dass bei immer wiederkehrenden vorgeprägten Harmonie-Chiffren, Melodieführung und Text völlig austauschbar sind und alles andere als originell. Klischierte Harmonieschemata prägen die musikalische Gesamtaussage unzweifelhaft. Doch: „Draw your own conclusions“ - Zieh daraus deine eigenen Schlüsse. Procol Harum - „Your Own Choice“ - Deine eigene Wahl

Musik: Your Own Choice - Procol Harum

Moderation: Selbst Procol Harum rutscht bei diesem Song in die Niederungen üblicher Machart, üblicher Klanggebilde ab. Aber wie gesagt: „Your Own Choice“ - Es ist deine eigene Wahl. Gehen wir jetzt mit unserem kritisch geschulten Blick an die Beurteilung von z.B. Mungo Jerry’s „In the summer time“, dann werden wir aus dieser Perspektive heraus einen vielleicht neuen, distanzierten Eindruck gewinnen. Denn: hinter der relativ originell wirkenden Klangfassade verbirgt sich der Muff uns allen sattsam bekannter Musikphrasen.

Musik: In The Summer Time - Mungo Jerry

Moderation: Zu diesem Thema „oberflächliche Klischeemusik“ gäbe es noch erheblich mehr wichtiges und inhaltliches zu sagen. Aber die Sendezeit geht zu Ende. Sichern wir unsere Argumentation ab, indem wir eine allgemein anerkannte, von Festtagsrednern allzu gerne beschworene Autorität zitieren. Vom griechischen Philosophen Platon stammt die Warnung: „Eine neue Art von Musik einzuführen, muß man sich hüten, denn nirgends wird an den Weisen der Musik gerüttelt, ohne dass die wichtigsten Gesetze des Staates mit erschüttert werden.“ - Danke Platon. Letzterem ist zuzustimmen. Doch wir sollten uns nicht hüten, eine neue Art von Musik einzuführen - ganz im Gegenteil. Kommentar dazu von Free: „It’s All Right Now“!

Musik: All Right Now - Free

Absage: Das war ... Danke fürs Zuhören ... ad lib

VR in Aktion am Diskplatz im hr-Sendestudio, 1980

Das war die Wiedergabe meiner Moderation und Musikauswahl meiner allerersten Radiosendung am 26. Oktober 1970. Die Hörerreaktion war vielfältig. Für eine einzelne Stundensendung in der Sendereihe „Teens - Twens - Top - Time“ waren noch nie so viele Hörerzuschriften eingegangen wie für diese Sendung. Es gab viel Zustimmung aber auch viel Kritik. Vor allem aus den Reihen der Rock’nRoll-Fans kam der Vorwurf, ich hätte die Musik des Rock’n’Roll verunglimpft und hätte die Energie des Rock’n’Roll nicht verstanden und den Spaß daran sowieso nicht. Es gab auch eine Zuschrift des Inhalts, dass „hier ein Sprecher unter dem Pseudonym „Rebell“ die Jugend politisch aufwiegeln und indoktrinieren“ wolle. Weil die Resonanz aber insgesamt positiv war und eine Fortsetzung des Themas erwünscht wurde, konnte ich eine Woche später meine zweite Sendung präsentieren – und eine Woche später die dritte usw. Und so ging es für mich weiter im hr bis zum 28.12.2008, der letzten Sendung von „hr3-rebell“. Danach konnte ich unter dem alten Namen „Kramladen“ meine Sendungen im Webradio ByteFM fortführen – bis heute. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Aber ein Neuanfang: mein eigenes Webradio „radio-rebell“ soll zum 01.01.2021 mit dem Senden/Streamen beginnen, so hoffe ich.

Radio, wie es mal war ...

Hier noch eine Fundsache: ein Artikel in der Offenbach Post vom 25.11.1970 zu meinem Radio-Start

VR Teens Twens Top Time