Keine Zeit zum älter werden
„Rock’n’Roll never dies ... keine Zeit zum älter werden ...“ – das sind zwei Kernzeilen aus einem der neuesten Songs von Udo Lindenberg „Mittendrin“. Und darin findet sich auch ein weiterer seiner genialen Sprüche: „selbst die dunkelste Stunde hat nur 60 Minuten“.
„Mittendrin“ ist einer von 4 neuen Songs, veröffentlicht am 14.05.21 im Udos neuer Werkschau „Udopium“, einem Panoptikum aus 50 Jahren Schaffenszeit, in der er gut 1000 Songs zwischen 1971 und 2021 geschrieben hat.
„Rock’n’Roller kennen keine Rente”, das hatte er schon als sein Motto ausgegeben als er 65 wurde. Jetzt kann er seinen 75. Geburtstag feiern und wird deshalb von allen landauf, landab gefeiert, warum also nicht auch in diesem Blog von radio-rebell.
Er habe gerade den Club der Hundertjährigen gegründet und einen Fahrschein für weitere 30 Jahre gebucht, ließ der am 17. Mai 1946 im westfälischen Gronau geborene Altrocker deutscher Zunge in einem Interview zu seinem 70. Geburtstag verlauten. Ob der Mann mit Hut und Zigarre und Sonnenbrille anders als Prince, Bowie etc. tatsächlich das Greisenalter erreicht? Auf jeden Fall hat er das Rentenalter bereits um ein stolzes Jahrzehnt überschritten. Und an Ruhestand denkt er noch lange nicht. Schließlich ist der Mann, der gerne mit Eierlikör gurgelt und malt, nicht so der Normalo, wie du und ich, obwohl er doch auch genauso sein will wie alle in seiner großen Panik-Familie. Und doch ist er eigentlich ganz anders.
Eigentlich ist er ganz anders, er kommt nur viel zu selten dazu, behauptete er hier mit Jan Delay. Er ist gar nicht der Typ, den alle in ihm sehen – wie ist er denn wirklich, Uns’ Udo, der jetzt schon die 75 erreicht hat? Antworten mit Fakten, Mutmaßungen und vielen Songs sind jetzt zu hören. Was ist das für ein Typ, dieser Musiker, Sänger, Maler, Musical-Macher Udo L. aus Hamburg. Wie oder wer ist er wirklich?
Das weiß er wohl selbst nicht immer so ganz genau, mal spricht er von sich selbstironisch als „Jodeltalent“ oder „Nachtigall“, mal lobpreist er sich selbst leicht größenwahnsinnig als „Gesamtphänomen“; mal nennt er sein Leben eine Inszenierung, worauf ihm sofort bescheinigt wird, er sei eine Kunstfigur mit Hut, Sonnenbrille und Zigarre, mal nennt er sich einen „Jungen von der Straße“, dann wieder fühlt er sich wie ein „Außerirdischer, wie ET, nicht von dieser Welt“, ein Udonaut. Der Pop-Autor Benjamin Stuckrad-Barre schrieb, Udo „sei längst der Alterspräsident aller ewig Jugendlichen, der Freakvater, der Gute-Laune-Onkel“ unserer Bunten Republik Deutschland. Wolf Biermann nannte ihn „das Fettauge in der westdeutschen Wassersuppe“. Heinz Rudolf Kunze fragte, sind wir denn nicht alle ein bisschen Udo? Der Kritiker Jens Balzer unkte, er sei ein von sich selbst gerührter Rock-Rentner. Für den Kolumnisten und Theatermacher Michael Herl ist Udo in Wahrheit ein ziemlicher Spießer, eingeengt in seiner komischen Kunstwelt. Und Sigmar Gabriel nannte ihn in seiner Laudatio zur Verleihung der Goldenen Henne 2015 einen „überzeugten Demokraten, einen Kämpfer und großen Menschenfreund“. Schon in seinem Album „Unter die Haut“ von 1996 sang Udo prophetisch: Du bist 70 und gut drauf. Und in seinem Lied „Das Leben“ aus seinem mtv-unplugged-Album von 2011 heißt es im Text:
„Früher waren wir doch unsterblich / heut' stehst du mit einem Bein im Grab
die Welt da draußen macht dich fertig / und du sagst, du hast genug
Ey Amigo, guck nach vorn / denk an unsern alten Spruch:
Nimm dir das Leben / und lass es nicht mehr los
denn alles was du hast / ist dieses eine blos
Nimm dir das Leben / und gib's nie wieder her“.
Das Album MTV-Unplugged erschien im Oktober 2011 und war nach seinem Erfolgsalbum „Stark wie zwei“ von 2008 ein weiterer kommerzieller Erfolg mit einem erneuten Platz 1 in den deutschen Charts und 1,1 Millionen verkauften Einheiten – nachdem schon das Vorläuferalbum „Stark wie zwei“, das 34. Studioalbum seiner Platten-Karriere, den Spitzenplatz der deutschen Charts eingenommen hatte, was Udo zuvor noch nie gelungen war. Und auch das Album „Stärker als die Zeit“, das am 29. April 2016 veröffentlicht wurde, kletterte sofort in den Charts von Deutschland, Österreich und der Schweiz nach ganz oben. Udos 35. Studioalbum klingt über weite Strecken wie ein Rückblick, eine Art musikalische Autobiografie; doch auch mit dem Blick nach vorn, zum eigenen Ende hin, und was danach kommen mag, mit der Frage, bleibt da was nach dem Schnitt des Sensenmanns? Aber in den wie üblich schnoddrig formulierten Texten geht es auch um Freundschaft, um Dankbarkeit, adressiert an den eigenen Körper, bis jetzt überlebt zu haben. Es geht um einsame Momente, um coole Socken, um schwere Zeiten, und dass man durch all den Schlamassel irgendwie halt durch muss.
Man erlebt hier einen Udo L., wie es der Kritiker Stephan Müller in seiner Plattenbesprechung zutreffend beschreibt, Zitat: „mit Schalk hinter der Brille und dem notwendigen Ernst unterm Hut. Es berührt durchaus, wie er im Opener durch das Tal der schweren Zeiten schreitet, (wie er) ‚muss da durch’ konstatiert und den einsamsten Moment verspürt, wenn er – bewacht von seinen Eltern Hermine und Gustav – auf der Bühne vor 50.000 Leuten steht und anschließend im Hotelzimmer Schreckensmeldungen über den Fernsehbildschirm flimmern sieht. Verschmitzt lächelnd bedankt sich der Teilzeit-Hamburger dann persönlich mit einem Hit bei seinem ‚body’, den er mit Alkohol und sonstigen Drogen herausgefordert hat. Gut, dass er selbst als ‚Dr. U’ und ‚Dr. Feeel Good’ in Personalunion Krankenscheine unterschreibt. Der ‚Spezialist für Udologie’ reicht Patienten gerne die ‚Panikinfusion’: ‚Ihr Herz ist aus dem Rhythmus, seien Sie nicht geschockt / Meine Diagnose: Sie sind völlig unterrockt.’"
Die Musik des von ruhigen Balladen und Midtempo-Songs dominierten Albums ist oftmals leider arg seicht und vorausberechenbar. In der Plattenbesprechung von Jens Balzer ist da leider zutreffend die Rede von einem - Zitat: „professionellen, rundum radiotauglichen, aber darin auch – man kann es nicht anders formulieren – verwechselbar konturlosen und konsequent klebrigen Konfektionsklang.“ Zitatende. „Dass die Musik so schlecht ist“, wie der Kritiker Jens Balzer wörtlich schreibt, liegt zu einem Großteil an der glatten Produktion, für die unter anderem der Juli-Gitarrist und Tim Bendzko-Produzent Simon Triebel verantwortlich sei. Zitat: „eine der zentralen Figuren der aktuellen Bausparvertrags-Neospießer-Gefühligkeitspopmusik“ – Rumms. Das saß! Ist als Kritik sehr böse, aber leider nicht so ganz von der Hand zu weisen. Im gleich folgenden Song „Blaues Auge“ geht’s musikalisch etwas kräftiger zur Sache, aber es klingt leider nach formelhaftem Gassenhauer. Jede Melodiezeile, jeder Akkordwechsel ist tausendmal gehört. Im Text findet sich da schon ein wenig mehr an Originalität, wenn Udo z.B. diese Zeilen singt: „Ich war mein eigner Thriller, Original und Parodie, hab das Drehbuch verbrannt, der Irrsinn führte Regie. Iich war der Gute und der Böse, und Action war mein Credo, mal war's ein Flop, mal großes Blockbuster Kino“ .
Das Leitmotiv des Textes lautet: „ein blaues Auge gehört ja irgendwie dazu“. Und da steckt einerseits das romantische, naive blaue Auge drin, Synonym für die rosarote Brille, die Unwissenheit und Naivität, eben: die Blauäugigkeit, andererseits und üblicherweise ist das blaue Auge erstmal das berühmte Veilchen, medizinisch gesehen eine leichte Blutung im Lid-Bereich des Auges: das schmerzhafte Endprodukt z.B. einer Schlägerei. Aber man sagt ja auch: man sei noch mal mit einem blauen Auge davongekommen, was heißen soll, es hätte auch viel schlimmer ausgehen können.
Und dann gibt es ja auch noch jenes blaue augenförmige Amulett, das in orientalischen Ländern weit verbreitet ist und nach dem Volksglauben den bösen Blick abwenden soll – und im weiteren Sinne ein Glücksamulett ist. Ob das alles aber assoziativ im neuen Lindenberg-Songtext „Blaues Auge“ mitschwingt? Ist ihm zuzutrauen.
„So 'n blaues Auge gehört doch irgendwie dazu“, singt Udo resümierend und zurückblickend über sein Leben, zu dem er steht, und an dem er nichts ändern würde. Und das klingt so, als kenne er keinerlei Selbstzweifel, was aber nicht stimmt. Das vermittelt jedenfalls zwischen den Zeilen der Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre „Panikherz“. Ihm, Stucky-Man, wie Udo seinen Freund Stuckrad-Barre in freundlicher Abkürzung nennt, ihm, Stucky-Man liegt der Panik-Udo sehr am Herzen. Er nennt den Udo nicht nur Freund, sondern Retter, Vorbild und fragt sich in seinem Roman „Panikherz“, Zitat: „Wenn ich bei einem Udo-Konzert durchgängig weine, warum weine ich dann? Was genau rührt mich so? Dass Udo noch da ist? Dass ich noch da bin? Oder wirklich DIE MUSIK? Die aber andere ja völlig unberührt lässt: was ich zeitlebens und gern bei jedem mit extra ausgesuchten und vorgespielten Liedern zu bekämpfen versuche, und dennoch, es kommt vor. Man kann nur jedem wünschen, dass er eine solche Musik hat, die im ein zuhause ist.“
Udo Lindenbergs Musik, in der er sich ganz am Anfang seiner Musikerlaufbahn als Schlagzeuger zuhause fühlte, war der Jazz. 1969 spielte er mit dem Jazz-Posaunisten Peter Herbolzheimer in dessen Trio Free Orbit .Der deutsche Jazz-Saxophonist Klaus Doldinger, der sich Ende der sechziger Jahre dem Jazzrock zuwandte, verpflichtete den jungen Schlagzeuger Udo Lindenberg 1971 für seine Band Passport, die er gerade gegründet hatte. Die Zusammenarbeit endete aber bereits nach der Einspielung des ersten Passport-Albums und einer ersten Tournee. Am 29. April 2016 ist Klaus Doldingers Album aus Anlass seines 80. Geburtstages erschienen, eine Art Retrospektive, in der alte Weggefährten und unterschiedliche Passport-Besetzungen mit Klaus Doldinger noch einmal im Studio zusammengekommen sind, um bekannte und unbekannte Titel neu aufzunehmen. Auch Udo war dabei und widmete seinem Entdecker und alten Mentor eine Neufassung seines Titels „Der Greis ist heiß“, der ursprünglich aus dem Lindenberg-Album „Stark wie zwei“ stammt.
„Der Greis ist heiß“, diese Rentner-Ode aus seinem Erfolgsalbum „Stark wie zwei“ von 2008, singt Udo auch auf dem Album „Doldinger“ von Edel-Jazzer Klaus Doldinger, ein bemerkenswertes Album, bei dem er von vielen Gastmusikern begleitet wurde und das entstanden ist: aus Anlass von Klaus Doldingers 80. Geburtstag am 12. Mai 2016.
In Doldingers Jazzrock-Band Passport begann wie schon erwähnt 1970/71 Udo Lindenbergs Karriere, damals noch als Trommler. Aber vom elitären Jazz zog es ihn zur populären Rockmusik und aus dem Bühnenhintergrund des Schlagzeugschemels zog es ihn alsbald ins Rampenlicht: er wollte Sänger werden.
Udo veröffentlichte im August 1971 sein erstes Soloalbum, noch in englischer Sprache getextet. Zum damaligen Zeitpunkt hielt Udo Rockmusik und deutsche Sprache für unvereinbar, was er dann 1973 mit seinem ersten deutschsprachigen Album „Alles klar auf der Andrea Doria“ eindrucksvoll widerlegte.
Udos erster Hit von 1973 hat einen Refrain, der zu so etwas wie einem geflügelten Wort wurde. Den Spruch kannte damals jeder: „Alles klar auf der Andrea Doria“.
Es heißt immer, Udo Lindenberg sei der erste gewesen, der deutsche Texte mit Rockmusik verbunden habe, aber es gab schon vor ihm Rockgruppen, die deutsch gesungen haben. Udos erstes deutschsprachiges Album „Daumen im Wind“ erschien 1972. Ein Jahr zuvor hatte er, wie schon erwähnt, noch englisch gesungen auf seinem Debütalbum „Lindenberg“, das allerdings floppte. Um es nochmals hervorzuheben: Damals 1971 vertrat er noch vehement die Auffassung – wie so viele andere auch, dass die deutsche Sprache mit Rockmusik zusammen nicht klingen würde. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte die Nürnberger Gruppe Ihre Kinder bereits 4 deutschsprachige LPs veröffentlicht. Und die Berliner Band Ton Steine Scherben um ihren Sänger Rio Reiser war schon 1970 in der Szene bekannt geworden mit ihrem rotzigen Politrock „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“. Und das Kölner Jugendkabarett Floh de Cologne hatte schon 1968 damit begonnen, deutsche Texte mit „Beatmusik“, wie es damals hieß, zu verbinden. Das heißt, Udo Lindenberg war nicht der Erfinder der deutschsprachigen Rockmusik. Aber er war der erste deutsche Rockmusiker, der deutschsprachige Rockmusik populär gemacht hat. Die Bands Ihre Kinder und Ton Steine Scherben hatten aber schon vor Lindenberg hörbar gemacht, dass die deutsche Sprache sehr wohl singbar ist, auch im Kontext der angloamerikanischen Rockmusik, was Udo Lindenberg anfänglich selbst bezweifelt hatte. Aber der Totalflop seines englischsprachigen Debütalbums hatte einen Sinneswandel bei ihm ausgelöst. Danach probierte er, deutsch zu singen. Und es gelang ihm auf Anhieb, weil er ja eigentlich kein richtiger Sänger war, sondern einen schnodderigen, lässigen Sprechgesang pflegte, der sich perfekt mit der Rockmusik verbinden ließ. Dazu kam noch seine Gabe für Wortwitz und Wortspiele, für Flapsigkeit und kesse Sprüche. Und damit brachte er einen neuen Ton in die deutsche Pop/Rockmusik, den es so vorher noch nicht gab und der breite Zustimmung fand und sehr schnell, sehr erfolgreich war.
Wenig bekannt, aber recht witzig war Udos Text zum Duett mit Nina Hagen „Romeo und Juliaaa“, 1992 als Single veröffentlicht und 2006 innerhalb der Kompilations-CD „Damenwahl“ wieder veröffentlicht. Da heißt es: „Weißt du noch, wie wir verzaubert waren? Du ludst mich ein zu unsrer ersten Currywurst und die Welt um uns versank.
Doch dann war kein Besteck da / und deine Küsse warn wie Nektar
und Ketchup war an deinen Händen / und Verlangen zog durch unsere Lenden..."
Udo und Nina Hagen im Duett vereint, im Song „Romeo und Juliaaah“, sicher kein großer Wurf, erstveröffentlicht als Single 1992, dann erschienen im Album „Panik-Panther“ von 1998 und später wiederveröffentlicht im Album „Damenwahl“ von 2006. Das Talent von Nina Hagen will er als einer der ersten im Westen entdeckt haben, sagte er in einem Interview. Während er heute meist mit jungen Männern wie Clueso und Jan Delay auf der Bühne steht und duettiert, hat er sich früher gerne speziell um Kolleginnen gekümmert:
Udo war es, der Gianna Nannini, die italienische Rock-Röhre in Deutschland bekannt machte. Er nahm sie als Gastsängerin auf seine 27-Tage-Tour im Jahre 1983 mit. Das Tourprogramm wurde dann auf der Live-LP „Lindstärke 10“ dokumentiert. Und Udo hat sich tatsächlich um einige Sängerinnen und deren Karriere in Deutschland verdient gemacht. Wie er sich offenbar auch immer gerne mit Frauen umgab und umgibt, was man auch in seinen diversen Liveshows sehen konnte
Ja, die Frauen und der Rausch, das waren und sind bis heute seine beiden großen Vorlieben. Im Privatleben bevorzugte er meist deutlich jüngere Frauen. Seit einiger Zeit ist er liiert mit der Fotografin Tine Acke, die über 30 Jahre jünger ist als er – warum auch nicht. Und tatsächlich hat Udo etliche Karrieren von Sängerinnen befördert, um nur Ulla Meinecke und Helen Schneider zu nennen, die er maßgeblich gefördert hat und mit auf Tour nahm. Für Deutschland hat er auch die Kanadierin Dalbello und die russische Sängerin Olga Pugatschowa entdeckt und live präsentiert. Und auf seinem bereits genannten Zusammenstellalbum „Damenwahl“ finden sich Dutte mit Nena, Yvonne Catterfield, Sezen Aksu, Esther Ofarim, Annette Humpe, Ulla Meinecke, Helen Schneider, Joan Baez und anderen. Und in seiner MTV-Unplugged-Show sang Udo weitere Duette mit Sängerinnen, darunter gemeinsam mit Inga Humpe das Lied „Ein Herz kann man nicht reparieren“,
Auch bei schlagerhaften Liedern hat Udo L. wenig Berührungsängste – wie dieser Liveaufnahme zu entnehmen ist: „Ein Herz kann man nicht reparieren“. Musik: Inga und Annette Humpe, Text: Udo Lindenberg.
Für seine Musik, aber auch für seine Texte hat sich Udo immer wieder Inspiration und Zuarbeit von anderen Musikern und Songschreiber-Kollegen eingeholt. Das darf man nie vergessen. Udo ist zwar der Frontman und Star, aber ohne die vielen fleißigen Helfer und Ideengeber im Hintergrund wäre er nicht dort, wo er seit langem steht.
Udo Lindenberg wird häufig als Institution in der deutschen Pop/Rock-Szene bezeichnet. Gerade jetzt im Umfeld seines 75. Geburtstags, kann man überall von ihm lesen, er sei eine „lebende Legende“, er sei der „Pate des deutschsprachigen Pop“ usw. Jetzt, wo er mit drei Nr1-Alben hintereinander auf dem Höhepunkt seiner Karriere steht und ganze Stadien füllte, finden ihn auch jene gut, die ihn in den neunziger Jahren längst abgeschrieben hatten. Worauf die außergewöhnliche Wertschätzung, die im jetzt allenthalben zuteil wird, beruht, gründet sich zum einen auf sein Lebenswerk, die schiere Fülle an Veröffentlichungen. Seit seinem Debütalbum von 1971 hat er bislang 45 Alben veröffentlicht, die Sampler und Best-Of-Kompilationen nicht mitgerechnet. Zum anderen muss man ihm Respekt zollen wegen seiner enormen Kreativität, seinem Einfallsreichtum und seiner Gabe, sich in unterschiedlichen Medien künstlerisch auszudrücken: er hat außergewöhnliche Show-Programme und Revuen auf die Bühne gebracht, er hat Filme gemacht, hat eine Autobiografie unter dem Titel „El Panico“ geschrieben und an weiteren Buch-Projekten mitgearbeitet und seit Januar 2011 gibt es ein Musical von ihm mit dem Titel „Hinterm Horizont“, das in Berlin von über 2 Millionen Besuchern gesehen wurde. Er ist ein recht origineller Maler, dessen Bilder, die er zum Teil „Likörelle“ nennt, ständig irgendwo in Ausstellungen zu sehen sind – sogar im Kanzleramt hingen Bilder von ihm. Er hat eine Udo Lindenberg-Stiftung gegründet, mit der er den deutschen Musiker-Nachwuchs fördert und Geld sammelt für Hilfsprojekte in Afrika. Er hat sich politisch immer eingemischt, hat, wenn man so will, sogar Geschichte geschrieben in der deutsch-deutschen Verständigung und Annäherung.
Aber vor allem ist er ein guter Songschreiber und origineller Texter. Seine Bedeutung als Wegbereiter der deutschsprachigen Pop/Rockmusik, wie wir sie heute kennen, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dafür sprechen auch die vielen Ehrungen und Preise, die er im Laufe der Jahre gesammelt hat, vom Echo über den Bambi und die Goldene Henne bis hin zum Jacob Grimm-Preis für seine Verdienste um die deutsche Sprache. Die Hochkultur ehrt ihn also für Reime wie: „Guten Tag, ich heiße Schmidt, und ich mache alles mit“, oder: „Angeilika aus Winsen an der Luhe, die lässt keinen Star in Ruhe“. Und man erinnert sich natürlich auch gern an seinen berühmten Reim: „Und der Geiger geigt uns einen / und manche Damen fangen an zu weinen / Und eine ist schon ganz nass / in den Augen und um die Nase blass“ / Und im gleichen Lied, heißt es weiter, toll gereimt: „Dieser Rhythmus, dass jeder mitmuss, diese Melodie vergisst man nie ...“ Erinnern wir uns an diese Melodie „Rudi Ratlos“ aus Udo Lindenbergs Album „Ball Pompös“ von 1974. „Rudi Ratlos“ war damals die „Single des Jahres“
Udo hatte auch immer einen Faible für deutsche Schlager und Chansons aus den zwanziger Jahren, so hat er z.B. den Friedrich- Holländer-Song „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, den Marlene Dietrich berühmt gemacht hatte, für sein Album „Ball Pompös“ aufgenommen, natürlich im Rock-Stil seines Panik-Orchesters. Und das blieb ja nicht Udos einziger Ausflug in die deutsche Lied- und Literatur-Geschichte. Er hat auch Texte von Bert Brecht, Erich Kästner, Tucholsky und anderen Literaten zum Teil neu vertont und sich damit wie nur wenige andere deutsche Rock-Sänger – Achim Reichel z.B.– der so genannten Hochkultur angenähert. Was ihm aber nicht überall gedankt wurde. So mäkelte der Spiegel in einer Konzertkritik: „Betulich knödelt sich Lindenberg durch eine lahme Brecht-Adaption.“ Aber die gerade gehörte verrockte Version des Friedrich Holländer-Klassikers ist von der Kritik überwiegend positiv aufgenommen worden. Genauso auch seine eingedeutschte Version eines ganz bestimmten Swing-Klassikers von Glenn Miller
Udos Single „Sonderzug nach Pankow“ erschien 1983. Auf die Melodie des berühmten Swing-Klassikers von 1941 „Chattanooga Choo Choo“, der von einer Zugfahrt mit der Dampflok von New York City nach Chattanooga in Tennessee handelte und von Glenn Miller berühmt gemacht wurde, hatte Udo diesen neuen Text geschrieben und damit 1983, zu Zeiten des Kalten Krieges, Politik gemacht. Udo hatte sich lange Zeit darum bemüht, in der DDR auftreten zu dürfen. Aber erste Zusagen wurden von den DDR-Behörden wieder kassiert. Aus Ärger über die Sturheit des Politbüros des Arbeiter- und Bauern-Staates schrieb er den Text „Sonderzug nach Pankow“ und beschwerte sich darüber, dass all die „Schlageraffen“ drüben singen dürfen, nur „der kleine Udo“ nicht. Er frozzelte, dass „Honey“ Honecker tief drinnen sicher auch ein Rocker sei und heimlich die Lederjacke anziehen würde. Als Udo den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker dann bei dessen erstem Besuch in der BRD 1987 traf, schenkte Udo dem DDR-Chef eine Lederjacke und eine E-Gitarre mit der Aufschrift „Gitarren statt Knarren“. Als Gegengeschenk erhielt Udo von „Honey“ eine Schalmei. Zuvor, im Herbst 83 durfte Udo tatsächlich im Palast der Republik in Ost-Berlin auftreten, doch eine anschließende, bereits zugesagte Tour durch die DDR wurde von der DDR-Regierung wieder abgesagt. In der UdSSR durfte er damals auf Tour gehen, nicht aber in der DDR.
Schon im Oktober 1981 zur Zeit der westdeutschen Friedensbewegung erschien die ziemlich kitschige Lindenberg-Single „Wozu sind Kriege da“, gesungen im Duett mit dem damals 10-jährigen Sohn Pascal seines Panik-Orchester-Keyboarders Jean-Jaques Kravetz
Wozu sind Kriege da
Udo Lindenbergs pazifistische Einstellung äußerte sich bei ihm in verschiedenen Songs und Aktionen. Er war bei den Anti-Pershing-Demos dabei, bei der Großkundgebung gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf und bei den Festivals „Rock gegen rechts“. Er kritisierte die Umweltzerstörung im Song „Grande Finale“ , wandte sich gegen soziale Missstände und Ungerechtigkeiten unter anderem in Songs wie „Kleiner Junge“, und er eckte auch immer wieder mal bei den Obrigkeiten an. Im Album „Udopia“ von 1981 singt er im Lied „Straßenfieber“: „In den Straßen steigt das Fieber. Und was verordnen sie? Schwere Knüppeltherapie gegen leichte Krawallerie". Nur wegen dieser Textzeile weigerte sich das Bayerische Fernsehen, eine Liveaufnahme dieses Songs zu senden. Und immer wieder hat er sich gegen Neo-Nazis zu Wort gemeldet und gegen Rassismus gewettert.
Gegen Fremdenfeindlichkeit hat er sich immer wieder in unzähligen Interviews ausgesprochen und eines seiner Hauptanliegen ist „praktiziertes Multikulti“, wie er es nennt, in der Zusammenarbeit mit Musikern aus aller Welt. Im Jahre 2001 veröffentlichte er einen Song gegen rechte Gewalt und gegen die Ideologie der Skinheads und Neonazis
Pimmelköppe heißt auch eine Serie von Zeichnungen, die Udo geschaffen hat. Auch hier kritzelte er kritische und witzige Skizzen über die rechtsradikalen Glatzenträger und geißelte damit das tumbe Gebaren der Skinheads und Neonazis.
Trotz aller Verdienste und Ehrungen wurde Udo Lindenberg auch immer wieder kritisiert.
Vor allem seine Musik und seine Texte hat man häufig kritisiert, Grundtenor, seine Kompositionen seien musikalisch doch recht schlicht und eindimensional, Wiederholungen seien an der Tagesordnung und auch manche seiner Texte hinterließen bei kritischen Zuhörern „leider nur ein Vakuum“, wie einer seiner Songs aus dem Album „Ball Pompös“ hieß. Auch aus den Reihen seiner Kollegen kam Kritik.
Rio Reiser z.B., der sich ironisch als „König von Deutschland“ hochjubelte und in einer gewissen Konkurrenz zu Udo Lindenberg stand, was die Bedeutung für die deutschsprachige Rockentwicklung anging – schließlich hatte er mit seiner Band Ton Steine Scherben schon drei Jahre vor Udo hörenswert und gekonnt deutsch gesungen – Rio Reiser äußerte sich in einem Interview mit der Zeitschrift Stereoplay ziemlich kritisch zu Udos Texten. Zitat: „Was ich von Anfang an nie mochte, war diese so genannte Szenensprache, die teilweise sowas von blöde ist, die auch kein Mensch spricht – Gott sei Dank. Das soll irgendwie proletarisch sein, so locker – mein Gott, strengt der Mensch sich an, locker zu sein“ – harsche Worte von einem hochbegabten deutschen Songschreiber, der sich ziemlich anstrengen musste, mal so viele Platten wie Udo zu verkaufen, was ihm nur einmal mit seinem Erfolgs-Album „Rio der Erste“ von 1986 gelang. Auf Rio Reisers Tophit „König von Deutschland“, hat Udo übrigens 1989 mit seinem Song „König von Scheißegalien“ geantwortet.
Bei der Beurteilung seiner gesanglichen Fähigkeiten gehen die Meinungen weit auseinander. Die Fans loben seine Stimme als „ehrlich und ausdrucksstark“, die Kritiker hauen den „Sänger“ Udo gern mal in die Pfanne. Ein schöner Kritiker-Spruch lautet: „Schlecht singen konnte Udo schon immer gut.“ Und der Spiegel schrieb: „sein Scat-Gesang klingt nach phonetischen Übungen, nervtötend kreist er Töne ein, die er dann lauthals verfehlt.“ Seine stimmlichen Fähigkeiten sind tatsächlich äußerst bescheiden. Der Ton-Umfang seiner Nicht-Stimme liegt allenfalls unwesentlich über dem Durchschnitt des gemeinen Badewannen-Tenors. Statt zu intonieren, nölt er, statt zu singen, nuschelt er, statt zu phrasieren, stümpert er amateurig rum. Aber das macht er so unverkennbar und unverwechselbar, dass es schon wieder gut ist. Was andere mit herausgestelltem Können und artifizieller Vokalakrobatik zelebrieren, das macht er mit Charakter. Deshalb ist er zu recht seit 50 Jahren einer der populärsten deutschsprachigen (Nicht-)Sänger. Oder sollte man besser „Nöl-Troubadur“ sagen. Nicht ohne Chuzpe nannte er sein Album von 1997 „Belcanto“
Seine Belcanto-Stimme „aus dem Gully“ ist gleich nochmals zu hören mit einem Ausschnitt aus seinem Album „Stärker als die Zeit“. Zuvor aber noch ein Schlusswort. Zum 75. Geburtstag wünscht radio-rebell dem Jubilar nur das Allerbeste und dass er ein "heißer Greis" wird und mindestens mal so alt, wie er jetzt schon aussieht. Und sollte es irgendwann nicht mehr so gut laufen, sollten womöglich noch mehr Haare oder Ideen ausgehen, oder die vom Suff und den Zigarren gezeichnete Stimme endgültig versagen, Udo wird immer in der von ihm ins Leben gerufenen „Rentnerband im Onkel Pö“ einen Job als Schlagzeuger kriegen, vorausgesetzt, er kriegt dann die Stöcke noch hoch.
Zugabe: Im Buch der Lebensweisheiten von Warner Music und Udo L. "Udopium" steht geschrieben : „Immer schon, so lang ich denken kann / Kenn ich dieses Bauchgefühl / Das mir zeigt, wo meine heißen Spuren sind“, singt Udo von einem untrüglichen Gespür, das ihn seit jeher leitet – und ihn auch dann rettete, als er „den falschen Geistern“ nachjagte und mächtig ins Schleudern geriet: "Wenn ich mal durchdreh, nich’ weiß wohin's geht / Mein Herz ist mein Kompass und zeigt mir den Weg“.
Nachtrag: Jens Balzer schrieb in seiner Rezension des Albums „Stärker als die Zeit“ in der FR vom 29.04.16: Das Album biete „bloß Malen-nach Zahlen-Balladen, in denen die ... Größe von Udo Lindenberg in tragischer Art zur öden Pose eines von sich selbst gerührten Rockrentners schrumpft.“ Und über die Qualität der Songs und der Produktion urteilt er: „... ein professioneller, fürs Radio tauglicher, konturloser und klebriger Konfektionsklang“.
Hat uns Udo das verdient? Auf jeden Fall ist er längst in die Geschichte eingegangen, alleine schon dadurch, dass er bei der Einspielung der Tatort-Themamusik (Komposition: Klaus Doldinger) im Jahre des Herrn 1970 die Trommelstöcke schwang.
Ein Großteil dieses Textes basiert auf dem Manuskript meiner "Kramladen"-Sendung zum 70. Geburtstag von Udo Lindenberg (Volker Rebell)