Zum Tod des rätselhaften Sängers und Songschreibers von Talk Talk
Mark Hollis – in Stille verschwunden
– zum Tod des rätselhaften Mastermind von Talk Talk
Das ist das Thema meiner “Kramladen”-Sendung in ByteFM am Do 07.03.19 von 23-24 Uhr (Wiederholung Sa 09.03.19 von 14-15 Uhr
„Bevor du zwei Noten spielst, lerne erst einmal eine Note zu spielen – und spiele keine Note, bevor du nicht einen guten Grund dafür hast.“ Dieses Statement über seine musikalische Philosophie findet sich oft zitiert. Manches was Mark Hollis in den wenigen Interviews, die er gab, sagte, klingt hochgestochen, teilweise auch überheblich: weil er schon in den frühen achtziger Jahren, als seine Band Talk Talk reüssierte, von musikalischen Einflüssen wie John Coltrane und Schostakowitsch sprach, was sich allerdings im Synthiepop seiner Band noch nicht einmal in Spurenelementen nachweisen ließ. Und doch deutete sich schon in der frühen Karriere von Talk Talk an, dass Mark Hollis auf einem eigenen Weg war, weg von allen kommerziellen Zwängen und musikstilistischen Vorgaben, hin zu einer totalen musikalischen Freiheit, die als Zielvorgabe tonal unbegrenzte Klangräume anstrebte – und Stille. Auf diese Freiräume zwischen Klang und Stille hat er bereits während des Karrierehochs von Talk Talk hingearbeitet, die Stille hat sich in seinem Werk zunehmend ausgebreitet. Und in dieser Stille ist er letztlich auch verschwunden.
Ganz im Gegensatz dazu begann die musikalische Karriere von Mark Hollis und Talk Talk im Stakkato der lauten Trommelwirbel von Drumcomputern und elektronischen Synthie-Sounds zwischen New Romantics, Electro-Dance, New Wave und Synthiepop der frühen achtziger Jahre. Grell geschminkte, elektronisch hochgerüstete Funpop-Bands wie Duran Duran, Kajagoogo und Culture Club dominierten die Szene und Talk Talk sollten in dieser Welle mitschwimmen – so wollte es deren Plattenfirma. Der scheu und schüchtern wirkende Sänger und Hauptsongschreiber Mark Hollis schien ein romantisches Gegenmodell zu verkörpern zu den neuen Helden der Szene, Simon Le Bon, dem extrovertierten Frontman von Duran Duran oder Boy George, dem extravaganten Sänger von Culture Club. Und tatsächlich funktionierte die Imagezuschreibung für Mark Hollis als sensibler, introvertierter, leicht geheimnisvoller junger Sänger, der die melancholische Kunst des „schönen Leidens“ beherrscht – zerbrechlich und wirkungsmächtig zugleich. Und Mark Hollis hatte auch die Gabe, eindrucksvolle Songs mit Hitpotential zu schreiben: „It’s My Life“ (1983), „What A Shame“ (1984), „Dum Dum Girl“ (1984), „Life’s What You Make It“ (1985) waren große Erfolgssongs, die auch von Kritikern gelobt wurden. Kaum jemand konnte damals den Gleichklang von Euphorie und Depression so überzeugend in Popsongs ausdrücken wie Mark Hollis und Talk Talk.
Mit ihren beiden Alben „It’s My Life“ (1984) und „Colour Of Spring“ (1986) erlangte die Band Kultstatus. Der große Erfolg erklärt sich auch durch die Besonderheit der Musik, insbesondere das originelle Songwriting von Mark Hollis, das sich zwar noch im Rahmen der Konvention bewegt, aber mit überraschenden Harmonie- und Themenwechseln eine kompositorische Ambition erkennen lässt. Klangprägend für Talk Talk ist vor allem die nasale, leicht gequält klingende Stimme von Mark Hollis. Kritiker hörten in seiner Stimme einen „jammernden Tonfall“ und „einen Gestus der Verzweiflung“. Der New Musical Express schrieb damals despektierlich, Mark Hollis klinge „wie ein Mann, der mit dem Mund voller Klebstoff gähnt.“ Aber gerade diese stimmliche Eigenart der selbstbewussten Wehklage machte den Sound von Talk Talk unverwechselbar und jederzeit sofort wiedererkennbar.
Doch statt die eingeschlagene Erfolgsrichtung weiter zu verfolgen und die Erwartungen der Fans wie der Plattenfirma weiterhin zu bedienen, entschied sich Mark Hollis auf dem kommerziellen Höhepunkt von Talk Talk für einen radikalen Bruch mit den Erwartungen und vor allem mit den herkömmlichen popmusikalischen Schemata. Das für damalige Verhältnisse avantgardistische Folge-Album „Spirit Of Eden“ von 1988 war ein Schock für die Synthiepop-Fans und erst recht für die Plattenfirma. Doch für Mark Hollis war es ein musikalischer Befreiungsschlag. Das Konzept einer stilistisch völlig offenen, frei mäandernden Musik, die sich der herkömmlichen Form von durchgängigem Rhythmus und erkennbaren Melodie- und Harmoniestrukturen verweigert und nur der Intuition und dem Gefühl der Musiker folgt, sprengte damals alle üblichen Grenzen. Die meisten Kritiker lobten den mutigen Schritt, alle Popkonventionen hinter sich zu lassen und einen neuen Weg zu suchen – ins Offene hinaus, in neue Klangräume größtmöglicher musikalischer Freiheit. Dieser Musik, für die es damals noch kein Vokabular gab, versuchte sich der Kritiker Sebastian Zabel beschreibend anzunähern: „Ein Geisterklavier tastet sich voran, eine Trompete findet eine Melodie, von fern wimmert Hollis. Die sechs Stücke kreiseln und fließen ineinander, wie Blues, Jazz, Spuren klassischer Popmusik und romantischer Klassik ineinanderfließen. Mark Hollis‘ Verzweiflung schien einer konzentrierten Versunkenheit gewichen zu sein.“
Im Nachfolgealbum „Laughing Stock“ von 1991, dem fünften und letzten Studioalbum von Talk Talk, setzte Mark Hollis mit ungebrochener Unterstützung der meisten seiner Mitmusiker von Talk Talk den eingeschlagenen Weg in Richtung avantgardistischer Klanglandschaften und damit einer weiteren Entfernung von Popbusiness und Fanbasis fort. (Nur der Talk Talk-Mitbegründer und Bassist Paul Webb, der kürzlich als Rustin Man und seinem hochgelobten Album „Drift Code“ von sich reden machte, hatte damals die Band verlassen.) Eine große Zahl von Gastmusikern, vor allem Streicher und Bläser beteiligten sich an den teilweise in freier Improvisation entstandenen Stücken, die dennoch niemals überladen wirkten, sondern viel freien Raum für Ruhephasen und Zwischentöne ließen. Von der Initiierung des „Post-Rock“ sprachen damals Kritiker in ihren überwiegend positiven Besprechungen des Albums. Man lobte die kreative Mixtur von Anklängen an Debussy, Arvo Pärt, Miles Davis, aber auch Can und Philip Glass. Die englische Pop-Presse nannte das Album dagegen „nicht eben lustige Party-Musik“ (Q), oder „schlichtweg schrecklich“ (NME). Das Magazin spex wählte „Laughing Stock“ auf Platz 37 in ihrer Liste der „100 Platten des Jahrhunderts“.
Nach „Laughing Stock“ sollte noch ein weiteres Album mit ähnlicher Ausrichtung in Angriff genommen werden. Doch es fand sich niemand, der das Wagnis einer weiteren Platte mit Experimentalmusik finanzieren wollte. Die musikalische Vision von Mark Hollis schien sich mit „Laughing Stock“ letztlich auch für ihn erfüllt zu haben. Er zog sich ins Private zurück und überraschte die Musikwelt erst sieben Jahre später mit seinem ersten und einzigen Soloalbum „Mark Hollis“, eingespielt ausschließlich auf akustischen Instrumenten. Hatte er sich noch in „Laughing Stock“ einem traditionellen Songwriting-Konzept zugunsten der Improvisation entzogen, kehrte er nun wieder zur strukturellen Komposition zurück. Die teils komplex gestalteten Stücke mit ihren behutsamen Arrangements und einer fragilen Instrumentierung haben – wie schon die letzten beiden Talk Talk-Album – mit Popmusik im herkömmlichen Sinne nichts zu tun. Erneut ließ sich Mark Hollis nur von seinen musikalischen Vorstellungswelten leiten und nicht im Geringsten von kommerziellen Erwägungen. Mit diesem Anti-Popalbum von bizarrer Schönheit hatte sich Mark Hollis ein letztes Denkmal gesetzt. Unmittelbar nach Veröffentlichung dieses melancholischen Meisterwerks zog er sich aus der Öffentlichkeit gänzlich zurück.
Am 25. Februar 2019 starb Mark Hollis im Alter von 64 Jahren in London nach kurzer schwerer Krankheit. Er hinterlässt seine Frau, zwei Söhne – und, mit seinem Soloalbum eine verstörend schöne Musik, die sich in Kontemplation aufzulösen scheint und schließlich in der Stille verschwindet. Das Album endet mit einem knapp zweiminütigen Ausklang von absoluter Stille.