In einem ausführlichen Interview gibt David Gilmour Auskunft über sein neues viel gelobtes Album
„Reach for my old guitar / fed on milk and honeydew“ („Ich greife nach meiner alten Gitarre /
Genährt von Milch und Honigtau“), singt David Gilmour in einer Art von Selbstvergewisserung, Hoffnung und Trostsuche. Schließlich lauteten die ersten Zeilen dieses Songs „A Single Spark“ ahnungsvoll und fast resignativ: „In diesen Tagen wilder, unsicherer Zeiten frage ich den leeren Himmel / Wer wird die Dinge am Laufen halten, wem singe ich Hosiannas? / Der Tempel ruft, aber ich kann nicht sehen, was meine Gebete nützen werden / Und wird sich diese Welt weiterdrehen nur mit guten Absichten“. Damit steht die Frage im Raum, wird David Gilmour gemeinsam mit seiner Frau Polly Samson, die fast alle Songtexte schrieb, mit seinem neuen Album „Luck and Strange“ zum aktuellen Wahnsinn in dieser Welt Stellung beziehen? Die Aufnahme beginnt mit einem für den Edel-Schlagzeuger Steve Gadd typischen, punktiert stolpernden, cleveren Drumgroove, der die Erwartungshaltung steigert. Dann setzt David Gilmours Stimme ein. Für den zitierten Text schrieb er eine etwas betulich wirkende Melodie, die einem Broadwaymusical hätte entlehnt sein können. Auf die erste Strophe folgt ein pathetischer Engelschor wie aus einem Hollywood-Bibelfilm der fünfziger Jahre, begleitet von einem Glockenschlag. Das kann doch nur ironisch gemeint sein, oder? Die Musical-Stimmung setzt sich fort, genährt durch Streicherflirren und weitere Engelschöre im Hintergrund. Doch dann grätscht in den Schönklang ein aufsteigendes Riffthema der Gitarre mit scharfem Ton hinein. Und schließlich, als die letzte bedenkenswerte Songzeile verklungen ist („Bittersüß die Umarmung der Nacht, ich bin dankbar und ängstlich, bete, dass alles weitergeht, ich habe nur gute Absichten“), dann endlich erhebt sich die singende Sologitarre des Meisters mit gewohnt edlem Sound und bekannt schwelgerischer Melodik über den Streichernebel hinweg und übernimmt die Führung bis zum Ende des Songs.
Audiovideo „A Single Spark“
Ähnliche Irritationen, die sich doch meist in Wohlgefallen auflösen, hält das Songprogramm des neuen Albums verschiedentlich bereit. Der typische Pink Floyd-Fan, der in David Gilmour die Stimme und Gitarre seiner Lieblingsband verehrt, muss sich von Erwartungen gänzlich lösen, um die Eigenheit und Schönheit der elf neuen Tracks zu entdecken und zu ästimieren. Etwas altertümlich, besser old-school-like klingen die meisten Aufnahmen. Kein Wunder, geht das Titelstück auf eine Jamsession zurück, die 2006 stattfand, unmittelbar nach der erfolgreichen „On an Island“-Tour, an der auch Ex-Pink Floyd-Keyboarder Rick Wright beteiligt war. David Gilmour war von der Band-Chemie während der Tour so angetan, dass er seine Mitmusiker bat, bevor sie sich in alle Winde verteilen, noch ein paar Tage dranzuhängen, um ein paar neue Ideen zu erproben (siehe und höre das Gilmour-Interview im Podcast weiter unten). So entstand in Gilmours zum Studio ausgebauter Scheune unter anderem das Gerüst des Titelstücks „Luck and Strange“. Die 14-minütige Jamsession vom Herbst 2006, die als Basis für den später ausgearbeiteten Song diente, wurde dem Album als Bonustrack angehängt.
Das Titelstück, ein Bluesrock im schleppenden 6/8-Takt, lässt in Sound und Stil von Ferne Erinnerungen an David Gilmours große Vergangenheit mit Pink Floyd vorüberziehen – auch weil die Keyboard-Spuren des 2008 verstorbenen, ehemaligen Pink Floyd-Musikers Rick Wright aus der Jamsession für die Endfassung des Songs übernommen wurden.
(Video Luck and Strange)
Neun Jahre nach seinem letzten Soloalbum „Rattle That Lock“ erschien Soloalbum Nummer 5 am 6. September, dem 81. Geburtstag seines Pink Floyd-Kontrahenten Roger Waters.
David Gilmours Frau Polly Samson, die die meisten Texte geschrieben hat, benannte das durchgängige Thema des Song-Zyklus so: „Es geht um Sterblichkeit, darum, wie du die Welt betrachtest, wenn du älter wirst.“ Hochgradig berührend wird dieses Leitmotiv der Texte im Song „Dark And Velvet Nights“ in zwei Zeilen komprimiert: „Wie werden wir uns trennen? Werde ich deine Hand halten oder wirst du meine halten?“
Der Klangcharakter dieses schwergewichtigen Rocksongs „Dark and Velvet Nights“ unterscheidet sich deutlich vom Rest der Studioproduktionen des Albums. Die Aufnahme klingt rau und grob wie ein Livemitschnitt mit röhrender Schweineorgel, reduziert abgenommenen Schlagzeug und dröhnend verzerrter E-Gitarre. Der Song wurde live im Studio eingespielt. Trotz opulentem Streicherarrangement im Hintergrund hat die Songaufnahme soundtechnisch nichts mit der feinjustierten Klangästhetik des Gesamtalbums zu tun. Wenn man so will, kann man diesen „rough and dirty“-Sound als Botschaft deuten, David Gilmour verfügt, wenn er will, auch über den klassischen Hardrocksound alter Prägung.
Video „Dark and Velvet Nights“
Ganz anders der im Album unmittelbar sich anschließende soft-melodische Song „Sings“, dessen Texterzählung kleine Fluchten empfiehlt: „Ich segle in meinen Träumen fort / Weg auf ungetrübt ruhiger See / Aus dieser abgenutzten Welt / Die an den Nähten zerrissen ist.“ Das einprägsame melodische Hauptmotiv klingt vertraut. hr1-Kollege Werner Reinke war der erste, der sich fragte, woher er diese Melodie kennt. Und er wurde fündig. Das melodische Leitmotiv des Songs, das aus vier Tönen besteht, ist identisch mit den vier Tönen der Melodiezeile „Where are the clowns / Send in the clowns“ im gleichnamigen Song, komponiert von Stephen Sondheim für das Musical „A Little Night Music“ von 1973. Ein Plagiat darf hier nicht unterstellt werden. Alle anderen Melodielinien und Harmonieverbindungen verkörpern David Gilmours Stil und Kompositionsweise in purer Form. Eine gewisse Verwandtschaft zu Songinszenierungen von Leonard Cohen, den er in privatem Rahmen verschiedentlich gecovert hat, scheint in seiner hier tief angelegten, leicht brüchigen Stimme herstellbar. Der Song ist ein gelungenes, sensibel austariertes Kleinod mit einem feinfühlig gestalteten Arrangementpart, in dem die Babystimme des jüngsten Enkelkinds von David Gilmour ansatzweise singend zu hören ist.
(Audiovideo „Sings“
Tochter Romany Gilmour sorgt für die Überraschung des Albums. Was Vater David selten tut, das tat er auf Empfehlung seiner Frau Polly Samson: er coverte einen Song der längst vergessenen britischen Indie/Dreampop-Band The Montgolfier Brothers, die mit „Between Two Points“ von 1999 kurzzeitig eine gewisse Szenen-Aufmerksamkeit erlangten. Als David Gilmour eine eigene Version für sich erarbeitet hatte, stellte er fest, dass er zum Inhalt des Songtextes keine Verbindung fand und deshalb den Song nicht singen wollte/konnte (siehe und höre die entsprechende Passage im Interview unten). Seine Frau schlug deshalb vor, den Gesangspart an Romany zu übergeben. Sie übernahm das mit Bravour und Feingespür. Weil sie auch noch Harfe spielte, erhielt die Aufnahme eine ganz eigene Aura, so nicht wiederfindbar im Rest des Albums. Die besondere Stellung und Wertigkeit dieser Coverversion im Gesamtgefüge des Albums hat vor allem mit dem souveränen Auftritt von Romany Gilmour zu tun, liegt aber auch an der originellen Komposition der Montgolfier Brothers, deren besondere Qualität hinter den eher gediegenen Songkompositionen von David Gilmour keinesfalls abfällt, fast im Gegenteil.
Video „Between Two Points“
Die herzschlagähnlichen Klänge zu Beginn des abschließenden Songs „Scattered“ erinnern genauso wie der Schlagzeugeinsatz nach einem längeren atmosphärischen Intro und David Gilmours unverwechselbarer Gitarrensound an ähnliche Klangereignisse im Meilenstein-Album „Darkside Of The Moon“. Der begnadete Gitarrist überzeugt auch hier wieder mit technisch makellosen, , emotional bewegenden, bildhaften Gitarrenlinien von schwelgerischer Pracht wie schon in seinen besten Soli für Pink Floyd. Das dunkle Orchesterarrangement mit dramatisch opernhaftem Gestus ließ den Rolling Stone-Rezensenten an russische Klassikkomponisten denken. Der existenzialistische Text scheint diese Assoziation noch zu befördern: „Die Momente vergehen / Und all die kostbaren Dinge, die du gabst / Fallen durch meine Hände / Diese Welten, dieser verstreute Sand / Ich stehe in einem Fluss / Stemme mich gegen den Strom / Die Zeit ist eine Flut, die nicht gehorcht / Und sie gehorcht mir nicht / Sie endet nie.“
Im Interview sprach David Gilmour von einem Gefühl von Freude und Stolz, das ihn überkommt, wenn er sein neues Album anhört. Und ließ sich zu der Aussage hinreißen, „Luck and Strange“ sei sein „bestes Werk seit ‚The Dark Side Of The Moon‘“. Seine Euphorie mag man ihm gönnen und seine Übertreibung darf man ihm nachsehen. (VR)
(Audiovideo „Scattered“)
Kurz vor Veröffentlichung des Albums „Luck and Strange“ am 6. September gab David Gilmour eine Pressekonferenz und verschiedene Einzelinterviews, darunter auch eines dem deutschen Journalisten Andreas Zimmer, im Auftrag des deutschen PR-Büros, das die Radio-Promotion für das Album hierzulande übernommen hat. Freundlicherweise wurde mir dieses Interview zur Verfügung gestellt. Leider ist die Aufnahmequalität des Interviews eingeschränkt und wird den klanglichen Qualitätskriterien des Sound-Ästheten David Gilmour nicht gerecht. Doch auch wenn seine Stimme infolge der beschränkten Aufnahmebedingungen nicht gut wiedergegeben wird, ist der Informationsgehalt seiner Antworten gut genug, sich damit zu beschäftigen. Hier ist das komplette Interview mit David Gilmour zu hören:
Playlist zur Sendung "David Gilmour: Luck and Strange. Neues Album. Neue Tour."
Artist / Track / Album / Label
1. L.Shankar / Darlene (Kramladen-Themamusik) / Touch Me There / Zappa Records /
2. David Gilmour / The Piper’s Call / Luck and Strange / Sony
3. David Gilmour / Luck and Strange / Luck and Strange / Sony
4. David Gilmour / Yes, I Have Ghosts / Luck and Strange / Sony
5. David Gilmour / Dark and Velvet Nights / Luck and Strange / Sony
6. David Gilmour / A Single Spark / Luck and Strange / Sony
7. David Gilmour / Between Two Points / Luck and Strange / Sony
8. David Gilmour / Scattered / Luck and Strange / Sony
Die Sendung "David Gilmour: Luck and Strange. Neues Album. Neue Tour." wird am Do 19.09.24 um 23 Uhr über DAB+ undUKW ausgestrahlt und läuft in Radio-Rebell am 20. und 21.09.24, jeweils um 22 Uhr.
Hier ist der Zusammenschnitt der Sendung als Podcast zu hören:
Mit dem Songprogramm des neuen Albums „Luck and Strange“ geht David Gilmour mit großer Begleitband auf Tour und gibt vom 27. September bis 9. November 2024 jeweils mehrere Konzerte an vier verschiedenen Orten, und zwar in Rom, in der Royal Albert Hall London, in der Hollywood Bowl LA und im Madison Square Garden New York.
Das Album „Luck and Strange“ ist hier zu beziehen.