Würdigung des besten Wings-Albums zum 50-jährigen Jubiläum. Teil 1 – die A-Seite. Teil 2 - die B-Seite
Album: Band On The Run - Paul McCartney & Wings
Veröffentlicht am 7 Dezember 1973 (UK), 5. Dezember 1973 (USA)
Aufgenommen von August bis September 1973.
Höchste Chartsnotierung: 1 (UK), 1 (USA), 1 (AUS, CA, NOR, NZL, ESP), 15 (DE), 5 (SWE), 18 (ITA)
Besetzung: Paul McCartney (Gesang, Bass, Klavier, Keyboard, Gitarre, Schlagzeug), Linda McCartney (Gesang, Keyboard), Denny Laine (Gitarre, Bass, Keyboard, Gesang)
Teil 1: die Songs der A-Seite: Band On The Run / Jet / Bluebird / Mrs.Vandebilt / Let Me Roll It / + Single Helen Wheels
Teil 2: die Songs der B-Seite: Mamunia / No Words / Picasso's Last Words (Drink To Me) / Nineteen Hundred and Eight Five
Dass dieses Album überhaupt zustande kam und dass es auch noch das erfolgreichste und künstlerisch überzeugendste McCartney-Album seit der Beatles-Trennung werden sollte, grenzt schon fast an ein Wunder. Denn die Bedingungen für ein entspanntes und kreatives Arbeiten an einem neuen Albumprojekt waren absolut nicht gegeben. Um nicht zu sagen: die Begleitumstände waren katastrophal. Das begann schon damit, dass zwei von fünf Musikern überraschend ihren Dienst quittierten. Paul, Linda und Denny Laine standen plötzlich ohne Schlagzeuger und Lead-Gitarrist da. Und das unmittelbar vor dem Abflug nach Lagos, Nigeria, wo das neue Album in einem EMI-Studio aufgenommen werden sollte. Die fahnenflüchtigen Wings-Mitglieder Henry McCullough und Denny Seiwell hatten beide die Befürchtung, dass die Tage der Wings-Formation gezählt seien und eine Beatles-Reunion bevorstünde. Tatsächlich gab es einige Anzeichen dafür, dass eine Annäherung der Ex-Beatles möglich war.
Wichtiger noch als eine wahrscheinlicher gewordene Beatles-Reformierung für seine Entscheidung auszusteigen, war für den Lead-Gitarristen Henry McCullough sein unabänderlicher Status als letztlich weisungsgebundener Gitarrist im Dienste von Paul McCartney. Als blues-orientierter, improvisationsfreudiger Gitarrist wollte er zumindest bei Live-Auftritten, die Freiheit haben, seine Soli zu variieren und das Arrangement-Korsett verlassen zu können. Dies widersprach allerdings absolut Pauls Vorstellungen. Er war der Meinung, dass „die Qualität einer Band daran gemessen wird, wie konstant sie Abend für Abend spielt.“ Also verdonnerte er seinen Lead-Gitarristen nicht nur dazu, die von Paul ausgearbeiteten Soli tongetreu nachzuspielen, sondern auch in jedem Konzert Ton für Ton zu reproduzieren. „’Er trieb Henry in die Ecke’, berichtet Seiwell. ‚Und der hatte einfach die Nase voll.’“ Auch die Unzufriedenheit über die unzureichende Bezahlung und damit auch mangelnde Wertschätzung durch den Arbeitgeber McCartney, was auch der Hauptgrund für Denny Seiwells wachsenden Unmut war, führte zur Trennung. Doch Schlagzeuger Seiwell ließ Paul bis unmittelbar vor dem Abflug nach Lagos darüber im Unklaren, dass auch er austeigen wolle. „Er wartete bis zur letzten Minute – das Auto, das ihn zum Flughafen bringen sollte, hupte bereits vor der Tür.“ Da nahm Denny Seiwell den Telefonhörer in die Hand, um dem entsetzten Bandleader mitzuteilen, dass er nicht mitfliegen werde.
Von seinem Vorhaben, ein neues Album in Lagos aufzunehmen, ließ sich Paul aber nicht abbringen, auch wenn er jetzt nicht nur ohne Lead-Gitarristen auskommen musste, sondern auch noch ohne Schlagzeuger dastand. Also würde er das Album nur mit Linda und Denny Laine produzieren.
Da Linda als Tastenspielerin nur über rudimentäre Fähigkeiten verfügte, lag die Last der Instrumentenbewältigung bei Denny und vor allem bei Paul. Er spielte neben Bass, Klavier, Keyboards und Gitarre nun auch Schlagzeug. Denny Laine unterstützte ihn nach Kräften an Gitarre, Bass und Keyboards. Doch bevor die beiden mit Lindas Hilfe und gemeinsam mit dem ehemaligen Beatles-Tontechniker Geoff Emerick loslegen konnten, musste erst das marode Studio in Lagos mit Schalltrennwänden und Equipment-Reparaturen so hergerichtet werden, dass Tonaufnahmen von halbwegs ordentlicher Qualität überhaupt möglich waren. Das von Paul gebuchte EMI-Studio in Lagos war tatsächlich nicht viel mehr als „eine Art besserer Schuppen, der an ein Presswerk angebaut war. ‚Wenn man die Hintertür öffnete, sah man in dem kleinen, glühend heißen Raum einige Dutzend Kerle mit nacktem Oberkörper knöcheltief im Wasser stehen und Schallplatten pressen’, schrieb Geoff Emerick in seinen Erinnerungen.“ Dazu kam noch, dass Lagos nichts mit Pauls idealistischer Vorstellung von einem paradiesischen Urlaubsparadies zu tun hatte.
In Nigeria war zu dieser Zeit ein dubioses Militär-Regime an der Macht. Schon am Flughafen waren den Ankommenden Soldaten aufgefallen, die mit ihren Maschinengewehren herumfuchtelten. Bei einem Abendspaziergang wurden Paul und Linda auf offener Straße überfallen und ausgeraubt. Die mit Messern bewaffneten Räuber hatten ihnen nicht nur Geld, Kameras und Uhren abgenommen, sondern auch eine Tasche, in der Paul die Texte und Demobänder der neuen Songs aufbewahrt hatte. „Glücklicherweise hatte er den Großteil des Materials im Kopf, daher war der Verlust nicht so schlimm. Ein anderes Mal drangen Musiker aus der Gegend ins Studio ein und beschuldigten Paul, ihre heimischen Sounds zu stehlen.“ Paul hatte tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, nigerianische Musiker, zumindest einen Schlagzeuger, für die Plattenaufnahmen zu engagieren, was er aber sofort verwarf, nachdem unter anderem auch Fela Kuti, der lokale Starmusiker, Vaterfigur des Afro-Beat, dem Superstar aus England unterstellte, er wolle afrikanische Musiker ausbeuten und die Rhythmen Nigerias klauen. Erst als Paul ein paar seiner Lagos-Aufnahmen vorspielte, konnte er Fela Kuti davon überzeugen, dass die Vorwürfe und Unterstellungen völlig unbegründet waren. Der einzige nigerianische Musiker, der für das Album verpflichtet wurde, aber nur im Song „Bluebird“ mitwirkte, war der in London lebende Perkussionist Remi Kabaka (Seine Perkussions-Aufnahmen erfolgten erst nachträglich in London).
Die Spannungen und außergewöhnlichen Belastungen während der Aufnahmen in Lagos führten dazu, dass Paul noch mehr rauchte als üblich, was bei ihm während einer Gesangsaufnahme zu einem Bronchialkrampf führte, der ihn urplötzlich ohnmächtig zu Boden stürzen ließ. Ein Herzinfarkt war zunächst befürchtet worden, doch nach einer Ruhepause erholte sich Paul sehr rasch wieder, sodass die Aufnahmen fortgesetzt werden konnten.
Nach all diesen kleineren Katastrophen und größeren Irritationen während der Songaufnahmen in Lagos grenzte es fast schon an ein Wunder, dass in der Musik davon überhaupt nichts zu spüren war, dass im Gegenteil eine entspannte Atmosphäre, eine fast „jugendliche Sorglosigkeit“ herauszuhören und dazu eine kreative Ideenvielfalt zu bewundern war, wie noch bei keinem McCartney-Album zuvor seit der Beatles-Trennung. Das im Londoner AIR-Studio überarbeitete Songmaterial wurde im Oktober fertiggestellt und stieg nach der Veröffentlichung pünktlich zum Weihnachtsgeschäft 1973 zum kommerziell erfolgreichsten Album in Pauls Solokarriere auf. Auch die Kritiker waren voll des Lobes, überschlugen sich zum Teil fast in ihrem Jubel, lobten auch zum ersten Mal sogar das Covermotiv, ein Foto von Clive Arrowsmith, das eine Gruppe von einheitlich schwarz gekleideten Gefängnisausbrechern zeigt, die von einem Suchscheinwerfer erfasst werden. In der Gruppe der neun Ausbrecher erkennt man neben Linda, Paul und Denny Laine auch prominente Gesichter, den Schauspieler Christopher Lee, den US-Western-Held James Coburn, den Boxweltmeister im Halbschwergewicht John Conteh, den Komödianten Kenny Lynch und die beiden Moderatoren Michael Parkinson und Clement Freud. Zum ersten Mal erhielt Paul McCartney für ein Album Applaus von allen Seiten – und wurde er vorher für seine kompositorischen Nichtigkeiten gescholten, so rühmte man ihn jetzt, fast wie zu Beatles-Zeiten, für überzeugende Songs, die endlich wieder seiner einstigen Reputation als einer der großen Songschreiber der Popmusik würdig waren. Volker Rebell (Der vorstehende Text stammt aus meinem Buch „Paul McCartney: YESTERDAY & Heute. Diskographie Teil 1 als Bestandteil der Media-Box“)
Playlist zur Jubiläumssendung „50 Jahre Band On The Run von Paul McCartney & Wings, Teil 1 – die A-Seite“
Artist / Track / Album / Label
1. L.Shankar / Darlene (Kramladen-Themamusik) / Touch Me There / Zappa Records /
2. Paul McCartney & Wings / Helen Wheels / Band On The Run / Apple, EMI
3. Paul McCartney & Wings / Band On The Run / Band On The Run / Apple, EMI
4. Paul McCartney & Wings / Band On The Run (Underdubbed Mix) / 50th Anniversary Edition / MPL
5. Paul McCartney & Wings / Jet / Band On The Run / Apple, EMI
6. Robin Zander & Rick Nielsen of Cheap Trick / Jet / The Art Of Paul McCartney / arctic poppy, Bulletproof
7. Paul McCartney & Wings / Bluebird / Band On The Run / Apple, EMI
8. Corinne Baily Rae / Bluebird / The Art Of Paul McCartney / arctic poppy, Bulletproof
9. Paul McCartney & Wings / Mrs. Vandebilt / Band On The Run / Apple, EMI
10. Paul McCartney & Wings / Let Me Roll It / Band On The Run / Apple, EMI
11. Paul Rodgers / Let Me Roll It / The Art Of Paul McCartney / arctic poppy, Bulletproof
Die Sendung „50 Jahre Band On The Run von Paul McCartney & Wings, Teil 1 – die A-Seite“ wird von Antenne Mainz über DAB+ und UKW ausgestrahlt am Do 28.12.2023 um 23 Uhr und ist in Radio-Rebell zu hören am Fr 29. und Sa 30.12.2023 jeweils um 22 Uhr.
Hier ist der Zusammenschnitt der Sendung „50 Jahre Band On The Run von Paul McCartney & Wings, Teil 1 – die A-Seite“ mit allen Moderationen, aber nur kurzen Musikausschnitten (lediglich zur Dokumentation in geringer Bitrate 112 kBit/sec.) als Podcast zu hören:
Playlist zur Jubiläumssendung „50 Jahre Band On The Run von Paul McCartney & Wings, Teil 2 – die Songs der B-Seite“
Artist / Track / Album / Label
1. L.Shankar / Darlene (Kramladen-Themamusik) / Touch Me There / Zappa Records /
2. Paul McCartney feat. Dave Grohl / Band On The Run (live) / Glastonbury 2022 / MPI
3. Ann & Nancy Wilson / Band On The Run / The Art Of Paul McCartney / arctic poppy, Bulletproof
4. Paul McCartney & Wings / Mamunia / Band On The Run / Apple, EMI
5. Paul McCartney & Wings / No Words / Band On The Run / Apple, EMI
6. Denny Laine & The Cryers / No Words (live) / Red Clay Music Foundry 8/12/16 / EOP
7. Paul McCartney & Wings / Picasso’s Last Words / Band On The Run / Apple, EMI
8. Denny Laine / Picasso's Last Words / Denny Laine Sings the Hits of the Moody Blues and Wings / SC Entertainment
9. Paul McCartney & Wings / Nineteen Hundred and Eight Five / Band On The Run / Apple, EMI
Die Sendung „50 Jahre Band On The Run von Paul McCartney & Wings, Teil 2 – die Songs der B-Seite“ wird von Antenne Mainz über DAB+ und UKW ausgestrahlt am Do 11.01.2024 um 23 Uhr und ist in Radio-Rebell zu hören am Fr 12. und Sa 13.01.2024 jeweils um 22 Uhr.
Hier ist der Zusammenschnitt der Sendung „50 Jahre Band On The Run von Paul McCartney & Wings, Teil 2 – die Songs der B-Seite“ mit allen Moderationen, aber nur kurzen Musikausschnitten (lediglich zur Dokumentation in geringer Bitrate 112 kBit/sec.) als Podcast zu hören:
Album 50th Anniversary Edition ist hier zu beziehen.