Die hervorragende Klassik-Gitarristin Federica Artuso und ihre "Papier-Maché-Chitarra: A Mysterious Story"


Am malerischen Lago d’Orta, etwa 23 Kilometer westlich des Lago Maggiore in der norditalienischen Region Piemont gelegen, kann man in den Sommerwochen die unterschiedlichsten Musikrichtungen erfahren. In Omegna, am Nordende des Orta-Sees, wird im August das Fest San Vito gefeiert, bei dem auf Open-Air-Bühnen italienische Stars aus der Pop- und Rock-Szene auftreten. Aber auch Sänger und Sängerinnen aus der italienischen Schlagerszene „Musica leggera“ (leichte Musik) und „canzone“ (Lied) sind vertreten. In der romanischen Kirche Chiesa Madre di Sant'Ambrogio wird sakrale Musik aufgeführt.

Versteckt in den Wäldern oberhalb von Pettenasco kann man in einem Camp für Aussteiger auf Zeit zu meditativer Lounge-Musik chillen.
In Orta San Giulio, dem touristischen Zentrum des Orta-Sees, berühmt wegen seines antiken Ortskerns, wegen des Sacro Monte, wegen der pittoresken Piazza Motta mit unvergleichlichem Blick auf die vorgelagerte Isola San Giulio, bieten die Concerti di Mezzogiorno unterschiedlichste musikalische Erlebnisse.

In der antiken Casa Tallone auf der Isola San Giulio wird klassische Musik geboten, z.B. von Stravinsky. Im Palazzo Ubertini Penotti kann man z.B. elektroakustische Musik hören. In der Chiesa San Nicolao auf dem Sacro Monte spielt z.B, das Novo String Quartet Musik von Beethoven und Dvořák. Und auch auf der wunderschönen Piazza Motta finden vor dem Palazotto della Comunitá, dem alten Rathaus, das wie auf Stelzen aufgeständert am Rande der Piazza steht, Konzerte statt, z.B. von der Avantgarde-Pianistin Sonia Candellone

An den Berghängen oberhalb des Orta-Sees, in Miasino, Ameno oder Armeno kann man Jazz-Konzerte hören, oder das Festival „Guitar Masters“ mit alter Musik und italienischer Klassik genießen, dargeboten von Meistern ihres Fachs, klassischen Gitarristinnen und Gitarristen, meist gespielt auf historischen Instrumenten. Doch neben den edelsten Gitarren-Exponaten kommt auch ein Unikum zur Aufführung: Die Pappmaché-Gitarre, auf Italienisch „Papier-Maché“, meisterhaft gespielt von Federica Artuso.

Das Geheimnis der Pappmaché-Gitarre
Soll das ein Aprilscherz sein? Eine Gitarre aus Pappmaché? Man kennt das als Bastelmaterial in Kindergärten. Papierfasern oder in kleine Stücke gerissene Eierkartons werden in Wasser eingeweicht. Danach wird die Pampe zu einem Brei verarbeitet und das Wasser ausgewrungen. Fügt man nun Kleister oder Holzleim hinzu, kann man die Masse zu Figuren, Schalen, Masken oder Dekorationen formen. Aber doch nicht zu Gitarren. Doch, jedenfalls zum Teil. Der berühmte Gitarrenbauer Antonio de Torres (1817-1892) aus Almeria in Südspanien, der seine Instrumente in der Regel nur aus den aller edelsten Hölzern baute und im Jahre 1856 mit einer von ihm selbst benannten Gitarre „La Leona” den Gitarrenbau revolutionierte und den Prototyp für Gitarren prägte bis heute, er beschloss im Jahre 1862 mit dem billigen Werkstoff Pappmaché zu experimentieren, um herauszubekommen, ob mit diesem Material ein Klang zu erzielen ist, der mit einer normalen Holzgitarre vergleichbar ist, oder ob man mit Pappmaché vielleicht sogar einen besseren oder eigenen Klang erzeugen kann.

Natürlich arbeitete er nicht mit einem Brei aus eingeweichten Eierkartons, sondern verklebte in einer Art Schichttechnik verschiedene, sorgfältig bearbeitete Papierstreifen in mehreren Lagen übereinander, um nach dem Trocknen eine stabile, belastbare Kartonage zu erhalten. Und natürlich konnte er nicht für die gesamte Gitarrenkonstruktion Pappmaché verwenden. Der Hals war aus spanischer Zeder gefertigt, Stege und Griffbrett aus Palisander. Bei der Resonanzdecke musste er sich wie bei jeder normalen Gitarre aus klanglichen Gründen doch für Holz entscheiden (Fichte). Doch der Rest des Korpus, der Boden und die Zargen bestanden aus Pappmaché. Und wie klang die Pappmaché-Gitarre? Namhafte Gitarristen der Zeit beurteilten den Klang als sehr gut. Torres baute nur ein Exemplar seiner Pappmaché-Gitarre (evtl. noch ein zweites) und nahm die besondere Rezeptur seiner Pappmaché-Herstellung mit ins Grab. Auf jeden Fall hat nur ein einziges Exemplar überlebt und wird im Museo de la Musica in Barcelona ausgestellt. Allerdings ist dieses beschädigte Unikat nicht mehr bespielbar.

Der renommierte italienische Gitarrenbauer Fabio Zontini hatte den Ehrgeiz, diese legendäre Gitarre nachzubauen, forschte, entwickelte, experimentierte und schaffte es schließlich, eine Pappmasché-Gitarre nach dem Vorbild von Antonio de Torres zu bauen.

In Federica Artuso, einer brillanten Klassik-Gitarristin, fand er eine Interpretin klassischer Gitarren-Literatur, die sich auf historische Instrumente spezialisiert hat und vom Klang der Pappmaché-Gitarren aus der Werkstatt des Gitarrenbauers Fabio Zontini begeistert war. Inzwischen hat sie mehrere Gitarren-Werke großer Komponisten auf der Pappmaché-Gitarre aufgenommen und veröffentlicht.

Durch Zufall wurde ich bei meinem letzten Italienurlaub auf ein Gitarrenfestival aufmerksam, das unter der Überschrift „Guitar Masters“ eine Konzertreihe mit renommierten Klassik-Gitarristen und -Gitarristinnen aus Italien und Frankreich präsentierte, deren Repertoire sich vornehmlich auf Gitarrenkompositionen aus dem 18. und 19. Jahrhundert bezog und die überwiegend auf historischen Instrumenten spielten. Im Seitenflügel der Villa Nigra, eines alten Palazzo im malerischen Ort Miasino oberhalb des Lago d’Orta konnte ich das Konzert der Gitarristin Federica Artuso erleben.

Zu Beginn des Konzerts spielte sie hinter einem Vorhang, sodass man sie und ihr Instrument nur schemenhaft erahnen konnte. Der Grund für dieses „Versteckspiel“. Sie spielte ein kurzes Gitarrenstück hintereinander auf drei verschiedenen Gitarren – eine davon war die Pappmaché-Gitarre. Das Publikum sollte nun die Klangeigenschaften der drei Gitarren vergleichen und bestimmen, bzw. erraten, welche der drei die Pappmaché-Gitarre war.
Bei den beiden anderen in diesem Hörexperiment – neben der Pappmaché-Gitarre – gespielten Instrumenten, so erfuhr das Publikum, handelte es sich um zwei historische Gitarren von bedeutenden Gitarrenbauern, eine aus dem Jahr 1917 und die andere aus dem Jahr 1929. Die gleiche Gegenüberstellung der drei Gitarren führte Federica Artuso auch in anderen Konzerten vor, hier zum Beispiel in Rom:

Der Zufall wollte es, dass ich nicht nur auf die richtige Gitarre getippt hatte, sondern dass aus der Lostrommel der richtigen Antworten auch noch mein Abstimmungs- und Namenszettel gezogen wurde.
Als Preis durfte ich das jüngste Album von Federica Artuso „Papier-Maché: Federica Artuso plays Anido, Arcas, Llobet and Other“ in Empfang nehmen – und erhielt die Gelegenheit, mit ihr ein Interview zu führen, das später noch unter professionellen Audio-Bedingungen und in erweiterter Form aufgenommen wurde. Dieses Interview ist hier zu hören:
„A Tribute to Antonio de Torres“ einerseits und „A Tribute To Maria Luisa Anido“ andererseits ist der folgende Konzertausschnitt von Federica Artuso, aufgenommen bei ihrem Auftritt in Rom am 11.11.2023. Sie spielt auf ihrer Pappmaché-Gitarre, einem Nachbau des Originalinstruments von Antonio de Torres (1817 – 1892), gefertigt vom Instrumentenbauer Fabio Zontini. Und sie interpretiert drei Werke der von ihr hoch geschätzten argentinischen Gitarristin und Komponistin Maria Luisa Anido (1907-1996), ihre Bearbeitung von Mozarts „Minuetto dal Don Juan“ und zwei Eigenkompositionen von Maria Luisa Anido: „Canción del Yucatán“ und „Melodia Popular Argentina“
Federica Artuso // Maria Luisa Anido // Papier-Mâché guitar
Aus der Biografie von Federica Artuso:
Federica Artuso erfuhr ihre Ausbildung als klassische Gitarristin in der Schule von M° Stefano Grondona, bei dem sie ein Gitarrendiplom und ein akademisches Diplom der Stufe II erworben hat, beide mit Bestnoten, Lob und besonderer Erwähnung.
Sie hat bei verschiedenen international anerkannten Meistern studiert, zu denen sie neben Grondona selbst auch Paul Galbraith, Laura Mondiello, Oscar Ghiglia und Andrea Dieci zählt.

Sie wurde mit Stipendien und Verdienstdiplomen von Institutionen wie der Fondazione S. Cecilia in Brescia und der Accademia Chigiana in Siena ausgezeichnet. Für ihre Interpretationen erhielt sie Preise und Auszeichnungen bei internationalen Wettbewerben (darunter der historische Gargnano-Wettbewerb, der Premio delle Arti und der Migliori Diplomati d'Italia) und konzertierte als Solistin in Italien und mehreren europäischen Ländern.
In der internationalen Szene der klassischen Gitarrenmusik machte sich Federica Artuso 2020 einen Namen mit der Veröffentlichung ihrer Doppel-CD „Emilia Giuliani: Opera Omnia Per Chitarra / Complete Guitar Works“, in der sie das Werk der einflussreichen, aber fast in Vergessenheit geratenen italienisch-österreichischen Gitarristin und Komponistin Emilia Giuliani-Guglielmi (* 23. April 1813; † 27. November 1850) wiederentdeckte und neu interpretierte.

Zeitschriften für klassische Musik in Italien, Schweden, Japan und Spanien kürten die CD zum Album des Monats oder vergaben in ihren Rezensionen Bestnoten. Die spanische Zeitschrift Ritmo zählte die Doppel-CD zu den Referenzaufnahmen der Gitarrenmusik des 19. Jahrhunderts. Klassik-Radiostationen sogar in USA, Kanada und Australien widmeten Federica Artuso ausführliche Radio-Features.
Ihr besonderes Augenmerk gilt der Wiederentdeckung von Gitarristinnen und Komponistinnen der Vergangenheit, deren Werke kaum noch bekannt sind. Ganz allgemein interessiert sie sich für die Geschichte des weiblichen Gitarrenrepertoires. Ihre besondere Wertschätzung gilt der argentinischen Gitarristin und Komponistin Maria Luisa Anido (1907 - 1996)

Federica Artusos Forschungen zielen auch auf die Kenntnis von Instrumenten des historischen Gitarrenbaus. Derzeit spielt sie Gitarren von Renè Lacote (Paris, 1830), Francisco Simplicio (Barcelona, 1929), Enrique Garcia (Barcelona, 1917), Jacques Vincenti (Garcia copy, Genf, 2007) – und, seit 2023, die Pappmaché-Gitarre, als Nachbau des Gitarrenbauers Fabio Zontini. Das Original hatte der Spanier Antonio de Torres 1862 angefertigt. Und dieses ungewöhnliche, originelle Instrument, die Pappmasché-Gitarre, ist ihre Domäne geworden. Wie niemand sonst hat sie die Spieltechniken, Klangfarben und Ausdrucksmöglichkeiten dieses einzigartigen Instruments erforscht.
„The Papier-Maché Guitar – A Mysterious Story“, das ist das Thema dieser Sendung.

Die Playlist zu Sendung „Das Geheimnis der Pappmaché-Gitarre“
Artist / Track / Album / Label
1. L. Shankar / Darlene (Kramladen-Themamusik) / Touch Me There / Zappa Records
2. Pat Metheny / Improvisation Pikasso-Guitar / Internationale Jazzwochen Burghausen / br alpha
3. Muriel Anderson / Vincent / Doolin Harp Guitar / Pegheadnation.com
4. Marcin Dylla / Alborada / Francisco Tárrega / Siccas Guitars
5. Federica Artuso / Alborada / Papier-Maché / Velut Luna
6. Federica Artuso / El misachico / Papier-Maché / Velut Luna
7. Federica Artuso / Enrique Granados Danza Espanola n.5 / Papier-Maché / Velut Luna
8. Various Artists / Enrique Granados Danza Espanola n.5 / diverse / diverse
9. Federica Artuso / Abel Fleury Milonguea del Ayer / Papier-Maché / Velut Luna
10. Federica Artuso / Boceto Indigena / Papier-Maché / Velut Luna
11. Federica Artuso / Minueto del Don Juan de Mozart / Papier-Maché / Velut Luna
12. Federica Artuso / Cancion de Yucatan / Papier-Maché / Velut Luna
13. Federica Artuso / Emilia Giuliani Preludio n.1 op.46 / Emilia Giuliani: Opera Omnia Per Chitarra, Complete Guitar Works / Tactus
14. Federica Artuso / Emilia Giuliani Preludio n.4 op.46 / Emilia Giuliani: Opera Omnia Per Chitarra, Complete Guitar Works / Tactus
15. Federica Artuso / Emilia Giuliani Preludio n.6 op.46 / Emilia Giuliani: Opera Omnia Per Chitarra, Complete Guitar Works / Tactus

Die Sendung „Das Geheimnis der Pappmaché-Gitarre“ läuft in ByteFM am Do 14.08. um 23 Uhr und am Sa 16.08.25 um 14 Uhr, wird von Antenne Mainz über DAB+ und UKW ausgestrahlt: am Do 14.08. um 23 Uhr und am So 17.08.25 um 22 Uhr – und läuft außerdem in Radio-Rebell vom Fr 15.08. bis So 17.08. jeweils um 22 Uhr.
Der Zusammenschnitt der Sendung „Das Geheimnis der Pappmaché-Gitarre“ ist als Podcast hier zu hören:
