Paul McCartney „The Lyrics“ – als Literatur überhöht ?
Erstsendung: 09.12.2021
Kurzer Sendungstext: Unglaublich, das Weihnachtsgeschäft des Jahres 2021 wird im Bereich Pop wieder mal von den Beatles dominiert – und das 52 Jahre nach ihrer Trennung. Die Neuabmischung ihres Schwanengesang-Albums „Let It Be“ wurde als Super-Deluxe-Box mit 5 CDs, einer Blue-ray-DVD und einem dicken Hardcover-Buch im Schuber am 15. Oktober 2021 veröffentlicht. Ebenfalls im Schuber, aber noch dicker, noch schwerer und natürlich noch viel spektakulärer erschien pünktlich zum Weihnachtsgeschäft Paul McCartneys Songkompendium „The Lyrics“ in zwei Bänden. 912 Seiten umfasst das Großwerk mit Vorwort und Einleitung – eine Art Autobiografie: „sein Leben und sein Werk im Prisma von 154 eigenen Songs in alphabetischer Reihenfolge angeordnet“ (Klappentext). Neben den abgedruckten Songtexten (auf 156 Seiten) enthält das Mammutwerk eine Vielzahl von Faksimiles handschriftlichter Texte, Notizen, Postkarten, Briefe, Kalenderausrisse und Zeichnungen; darüber hinaus auch private Fotos, Plakate, Gemälde und vor allem mehr oder minder umfangreiche/aufschlussreiche Kommentare zu jedem einzelnen der vorgestellten Songs.
Der Kramladen stellt den Prachtband ausführlich vor.
Playlist
Artist Track Album Label Zeitplan
1. L. Shankar Darlene (Kramladen-Themamusik) Touch Me There Zappa Records 01:04
2. Paul McCartney Winter Bird, When Winter Comes McCartney III Capitol, Universal 04:15
3. Paul McCartney And I Love Her Unplugged (The Official Bootleg) Parlophone, Capitol 11:10
4. Ted Chippington She Loves You Man In A Suitcase Vindaloo Records 16:57
5. The Beatles I’ve Got A Feeling Let It Be … naked Apple 21:04
6. Paul Vincent I Saw Her Standing There My Beatles Songbook Bell Records, Luxus Musik 27:30
7. Paul McCartney The Other Me Pipes Of Peace Parlophone, Columbia 33:46
8. The B-52’s Paperback Writer B-52’s Track Drives Car Ad Sony, ATV 40:37
9. Freedom Fry Paperback Writer Come Bring Your Love Bandcamp.com 44:31
10. The Beatles A Day In The Life Love Apple 49:06
11. Paul McCartney Uncle Albert/Admiral Halsey Ram Apple, EMI 57:43
„The Lyrics“ – Paul McCartneys Anstrengung, als Lyriker wahrgenommen zu werden
Unglaublich, das Weihnachtsgeschäft des Jahres 2021 wird im Bereich Pop wieder mal von den Beatles dominiert – und das 52 Jahre nach ihrer Trennung. Die Neuabmischung ihres Schwanengesang-Albums „Let It Be“ wurde als Super-Deluxe-Box mit 5 CDs, einer Blue-ray-DVD und einem dicken Hardcover-Buch im Schuber am 15. Oktober 2021 veröffentlicht. Ebenfalls im Schuber, aber noch dicker, noch schwerer und natürlich noch viel spektakulärer erschien pünktlich zum Weihnachtsgeschäft Paul McCartneys Songkompendium „The Lyrics“ in zwei Bänden. 912 Seiten umfasst das Großwerk mit Vorwort und Einleitung – eine Art Autobiografie: „sein Leben und sein Werk im Prisma von 154 eigenen Songs in alphabetischer Reihenfolge angeordnet“ (Klappentext). Neben den abgedruckten Songtexten (auf 156 Seiten) enthält das Mammutwerk eine Vielzahl von Faksimiles handschriftlichter Texte, Notizen, Postkarten, Briefe, Kalenderausrisse und Zeichnungen; darüber hinaus auch private Fotos, Plakate, Gemälde und vor allem mehr oder minder umfangreiche/aufschlussreiche Kommentare zu jedem einzelnen der vorgestellten Songs.
McCartneys Lyrics geadelt von einem preisgekrönten Lyriker
Diese essayistischen Erzählungen sind das Kernstück der „Lyrics“-Bände, weil sie biografische Anekdoten und zeitgeschichtliche Erinnerungen mit dem Versuch der Interpretation der Songtexte teils in assoziativer Herangehensweise verbinden. Die oft sehr privaten Kommentartexte entstanden in einer Reihe von 24 Gesprächen, die Paul McCartney in den Jahren 2015 bis 2020 mit seinem Ko-Autor, dem renommierten Lyriker und Pulitzer-Preisträger Paul Muldoon, führte. Wie die Familie McCartney ist auch Paul Muldoon irischer Abstammung, macht neben seiner schriftstellerischen und journalistischen Arbeit auch Musik, schreibt eigene Songs und gehört bei aller Wertschätzung für den Musiker und Songschreiber Paul McCartney nicht zu den „übertriebenen Fans, die jedes gesprochene Wort gleich in heilige Schrift verwandeln“ wollen, wie es Paul McCartney in seinem Vorwort formulierte. In der späteren Überarbeitung der jeweils zwei- bis dreistündigen Gespräche ist die Dialogform zwischen den beiden Pauls genauso verschwunden wie die Eingangs- und Zwischenfragen von Paul Muldoon. Übrig blieben wohl formulierte, informative Fließtexte, die für Beatles/McCartney-Kenner keine sensationellen Neuigkeiten enthalten, aber als Lektüre amüsant zu lesen und durchaus auch aufschlussreich sind.
Ein lohnendes Weihnachtsgeschenk für die Fans
In Gänze gesehen ist die Werkschau der Songtexte von Paul McCartney ein Prachtband für alle Beatles/McCartney-Anhänger, weil die private Schatztruhe für das Werk geöffnet wurde und weil der Songschreiber Paul McCartney nun erstmals auch als kompetenter Texter und Lyriker gewürdigt wird.
Seine fast als genial zu bezeichnenden Fähigkeiten als Musiker und Song-Komponist sind allgemein bekannt und anerkannt, doch hinter die Qualität seiner Songtexte wurden und werden große Fragezeichen geschrieben. Denkt man an textliche Banalitäten wie etwa in seinen Songs „Bib Bop“, „Oo You“, „Mumbo“ oder „Check My Machine“ bleiben diese Fragezeichen auch bestehen. Auch bei seinen kinderlied-ähnlichen, auch musikalisch beschränkten Beatles-Songs wie „All Together Now“ „Yellow Submarine“ oder „Obladi Oblada“ hat er sich nicht unbedingt mit textlich-literarischem Ruhm bekleckert.
McCartney in der Tradition von Shakespeare und Dickens?
Aber um Literatur und um literarische Bezüge, Querverweise und Meriten geht es ständig in den Kommentartexten des „Lyrics“-Bandes. Da wird der Schlusszweizeiler von „The End“ mit Shakespeare verglichen, der Narr in „Fool On The Hill“ mit dem Narr aus „King Lear, der dem alten König die Wahrheit sagt“ (McCartney). Die populäre Machart des Hits „Come And Get It“, den McCartney für Badfinger schrieb, wird mit Shakespeare und Dickens verglichen. Warum? Weil die ja auch ganz bewusst für die Bedürfnisse des Publikums geschrieben hätten. Der Roman „The Go-between“ des Schriftstellers Leslie Poles Hartley von 1953 erscheint als denkbare Vorlage für den Text von „She Loves You“. Und „Let It Be“ klingt plötzlich nach dem Hamlet-Monolog.
Dem ganzen Lyrics-Werk ist ein Zitat von William Shakespeare aus Hamlet, Akt I. 3. Szene vorangestellt: „To thine own self be true“. Könnte Paul McCartneys bekannte Neigung zur Eitelkeit hier eventuell etwas über die Stränge schlagen?
Lennon/McCartney oder Paul McCartney und John Lennon?
Apropos. Bei der Urheberschaft für „She Loves You“ steht übrigens „Paul McCartney und John Lennon“, nicht wie bei allen Credits der Beatles-Songs üblich, die von den beiden Ober-Beatles gemeinsam geschrieben wurden, „Lennon/McCartney“. Das mag bei Beatles-Songs verständlich sein, die McCartney nachweislich alleine geschrieben hat, wie etwa „Yesterday“, „Blackbird“, „Hey Jude“ und „The Long And Winding Road“. Aber ist das auch verständlich bei „I Want To Hold Your Hand“, einer Gemeinschaftskomposition mit verbrieftem 50/50-Anteil beider Autoren? Oder bei „Ticket To Ride“, der Single von 1965, zu der John Lennon „60% beigesteuert“ habe, wie Paul in einem früheren Interview selbst bestätigte? Auch hier steht im Buch „Lyrics“ als Autorenangabe „Paul McCartney und John Lennon“, genauso wie bei „I’ve Got A Feeling“, der Songmontage aus dem „Let It Be“-Album, bestehend aus dem Songfragment „I’ve Got A Feeling“ von Paul und dem Songfragment „Everybody Had A Hard Year“ von John.
Da fühlt man sich als Bewunderer der McCartney-Songkunst peinlich berührt und fragt sich, warum hat er das nötig?
Die besten Songtexte wurden nicht berücksichtigt?
Der Untertitel der beiden Lyrik-Bände lautet „1956 bis heute“. Nach welchen Kriterien erfolgte die Auswahl der 154 Songs? Schließlich hat Paul McCartney seit seinem ersten Song, den er als 14-jähriger schrieb, rund 450 Songs geschrieben – wenn man auch die bislang unveröffentlichten, nur aus Bootlegs bekannten Songs mitzählt. Man sollte doch annehmen, dass auch die besten Texte, die von Fachleuten entsprechend tituliert wurden, Eingang gefunden hätten. Aber von den sechs gemeinsam mit Elvis Costello geschriebenen Songs, die auch musikalisch, aber vor allem textlich mit zum Besten gezählt wurden, was auf McCartney-Alben je zu hören war, wurde kein einziger berücksichtigt.
Im Kommentar zu seinem Nr.1-Hit „Mull of Kintyre“, den er gemeinsam mit dem Wings-Gitarristen Denny Laine schrieb, erwähnt er seinen Ko-Komponisten mit keinem Wort. Im Text über den besten Song der Beatles-Geschichte „A Day In The Life“, der mindestens zu zwei Dritteln den drei musikalisch wie textlich brillanten Strophen von John Lennon und nur zu einem Drittel dem Mittelteil und der in der Tat außergewöhnlichen, orchestralen Glissando-Idee von Paul McCartney zu verdanken ist, beweihräuchert er sich nur ob seiner Avantgarde-Nähe zu „Stockhausen, Luciano Berio, John Cage“ (Mc Cartney) und widmet sich fast über die Hälfte des Kommentartextes nur seiner Organisation des berühmten Orchester-Crescendo – während der Hauptautor des Songs im ganzen Text kein einziges Mal vorkommt.
Einerseits unterschlägt er Lennons Namen, andererseits handelt das Buch immer wieder von ihm
Tatsächlich aber ist auf den vielen Seiten des Doppelbandes von niemand anderem so oft die Rede wie von John Lennon. Doch neben der offensichtlichen Zuneigung zu seinem Expartner, Freund und Lieblings-Koautoren und neben dem großen Respekt vor der Persönlichkeit und künstlerischen Gestaltungskraft seines kreativen Konkurrenten schwingt durchgängig das zeitlebens größte Dilemma des Paul McCartney durch, dass er der Popöffentlichkeit immer und immer wieder begreiflich machen muss, dass die allgemeine Sichtweise falsch ist, er habe nur die zweite Geige bei den Beatles gespielt und John Lennon sei der intelligentere und genialere Beatle gewesen. Dass das Gegenteil der Fall ist, davon scheint Paul McCartney überzeugt zu sein. Und es wurmt ihn bis heute, dass viele das nicht einsehen wollen.
Dennoch: mit seinem aufwändig und liebevoll gestalteten Doppelband „Lyrics“ macht Paul McCartney jedem Beatles/McCartney-Fan ein großes Weihnachts-Geschenk zum Preis von 78 Euro.
Resümme: Songtexte und Songs sind zweierlei – das weiß man. Bei fast allen Songtexten von Paul McCartney wird überdeutlich, dass sie als eigenständige Lyrik kaum bestehen können, aber im Verbund mit der Musik einen wichtigen Beitrag zur brillanten Songkunst von Paul McCartney liefern. Als Songkomponist ist er in der Popgeschichte fast unerreicht. Doch die Qualität seiner Songtexte erreicht – wenn überhaupt – nur selten das Niveau seiner Musik.