1972. Die Songs Teil 2. Ausnahme-Songs des Jahres 1972, die auch 50 Jahre später noch von Belang sind
Erstsendung: 03.11.2022
Es gibt Songs, die altern schnell und sind schon bald nach der Veröffentlichung bereits wieder vergessen. Doch es gibt auch besondere Songs, die das Potenzial haben zu überdauern. Manche prägen sich so sehr ins Bewusstsein ein, dass sie über eine lange Zeitspanne hinweg den Alltag musikalisch begleiten. Hierbei spielen natürlich die subjektiven Empfindungen eine entscheidende Rolle.
Allerdings wurden in der Popgeschichte auch immer wieder Ausnahme-Songs veröffentlicht, deren musikalische Qualität noch Jahrzehnte später Bestand hat.
Auch 1972 hat die Popmusik außergewöhnliche Songs hervorgebracht, deren Substanz in handwerklicher und inhaltlicher Hinsicht auch heute noch anzuerkennen ist. Ein paar dieser Songjuwelen, die vor 50 Jahren erschienen sind, sollen in dieser Stunde zu hören sein, darunter „Vincent“ von Don McLean, „Saturday In The Park“ von Chicago und „Alone Again „ von Gilbert O’Sullivan.
Playlist
Artist / Track / Album / Label / Zeitplan
1. L.Shankar / Darlene (Kramladen-Themamusik) / Touch Me There / Zappa Records / 00:44
2. Joni Mitchell / You Turn Me On I’m A Radio / For The Roses / Asylum / 03:19
3. Elton John / Rocket Man / Honky Chateau / DJM Records / 07:38
4. Paul Simon / Mother and Child Reunion / Paul Simon / Columbia / 15:43
5. Don McLean / Vincent (Starry Starry Night) / American Pie / United Artist Records / 21:20
6. Gilbert O’Sullivan / Alone Again (Naturally) / Best Of / MaM / 27:40
7. Todd Rundgren / I Saw The Light / Something-Anything / Bearsville / 32:34
8. Cat Stevens / Morning Has Broken / Teaser And The Firecat / A&M Records / 37:04
9. Randy Newman / You Can Leave Yout Hat On / Sail Away / Warner / 41:48
10. Harold Melvin & The Blue Notes / If You Don’t Know Me By Now / I Miss You / Philadelphia / 48:20
11. Chicago / Saturday In The Park / Chicago V / Columbia / 56:20
In der Auflistung von wichtigen Songs des Jahres 1972 findet sich kein Song von Bob Dylan, ganz einfach weil in diesem Jahr von ihm weder ein Album noch eine Single veröffentlicht wurde. In seinem soeben veröffentlichten neuen Buch „Die Philosophie des modernen Songs“ beschreibt er 66 Songs, von Elvis Presley bis Elvis Costello, die ihn „beeindruckt und geprägt haben“ – so der Klappentext. Aus dem Jahre 1972 hat er einen einzigen Song ausgewählt: „If You Don’t Know Me By Now“, geschrieben von dem Songwriter- und Produzenten-Duo Kenny Gamble und Leon Huff, das zu den Pionieren des Philadelphia Soul gezählt wurde, veröffentlicht von der R&B/Soul-Gruppe Harold Melvin & The Blue Notes im September 1972.
Ich persönlich hätte diese Soul-Ballade nicht in die Liste der wichtigsten Songs des Jahres 1972 aufgenommen und damit auch nicht in die insgesamt zweiteilige Präsentation von großen Songs Anno 72 in meiner Radiosendung.
Aber Bob Dylans Analysen und Beschreibungen des Songs „If You Don’t Know Me By Now“ sind in besonderem Maße bedenkens- und lebenswert – teilweise auch irritierend – dass dieser Soul-Klassiker dann doch in die Sendung aufgenommen werden musste. Warum „irritierend“? Dazu ein Ausschnitt aus meinem Sendemanuskript:
„Im Text des Originalsongs von Gamble/Huff heißt es, übersetzt:
‚Du solltest mich verstehen, so wie ich dich verstehe
Jetzt, Baby, kenne ich den Unterschied zwischen richtig und falsch.
Ich werde nichts tun, um unser glückliches Zuhause zu stören.
Reg dich doch nicht so auf, wenn ich abends mal etwas später nach Hause komme.
Denn wir benehmen uns nur wie Kinder, wenn wir uns streiten und zanken.
Wir haben alle manchmal unsere eigenen, seltsamen Stimmungen.
Ich habe meine, und du Frau, du hast deine auch.
Vertrau mir einfach, so wie ich dir vertraue.
Solange wir zusammen sind, sollte es so einfach sein, das zu tun.
Reiß dich einfach zusammen, aber wir können genauso gut auch auf Wiedersehen sagen. Was nützt eine Liebesaffäre, wenn man sich nicht in die Augen sehen kann.
Wenn du mich bis jetzt nicht kennst, dann wirst du mich niemals kennen.’
Bob Dylan, der aus diesem Songtext mehr herausliest, als der Text selbst schildert, schreibt über den Song mit einem Hauch von Male-Chauvinismus, ich zitiere (Seite 107):
‚In diesem Song hat der Protagonist seinen Wert bewiesen. Er hat auf gute Weise Rechenschaft über sich abgelegt, mit Klasse und Auszeichnung. Er hat Wunder gewirkt, hat ihr ein Leben ermöglicht, sie reich gemacht, sie ernährt und gekleidet, zu ihrem Glück beigetragen. Und doch vertraut sie ihm trotz allem immer noch nicht. Sie denkt, er ist auf einem Egotrip. Sie ist leicht reizbar und schreckhaft, jede Kleinigkeit führt zu einem Wutausbruch. Sie finden mental einfach nicht zueinander. In diesem Song gibt es eine Menge Getöse, sehr viel Überheblichkeit und reichlich heiße Luft. Er ist wunderschön arrangiert und perfekt dargeboten. Es ist ein Song des Stolzes und der Selbstachtung. … In diesem Song steckt eine Menge Realismus, eine Menge Selbstherrlichkeit.
Es ist ein Song über Missverständnisse und Spannungen zwischen zwei Menschen, eine unausgeglichene Beziehung. Zwei Partner, die sich gegenseitig auf die Nerven gehen, die Zeit und Energie mit Dingen verschwenden, die sie ruhen lassen sollten. Es ist ein leidgeprüfter und passiver Song,’ schreibt Bob Dylan über den Song ‚If You Don’t Know Me By Now’“.