Die Massenfestivals, das Vergnügen und der Tod
Erstsendung: 05.08.2010
Wie zeitgemäß sind heute noch die Giga-Musik-Events, die vor allem auf Massenansturm abzielen und mehr auf Rekordzahlen aus zu sein scheinen als auf die Sicherheit ihrer Besucher? Die (vermeidbare) Katastrophe bei der Duisburger Loveparade mit 21 Toten und über 500 Verletzten ist nur das aktuellste Beispiel in einer Reihe von Tragödien, die sich bei Mammut-Festivals ereignet haben. Ob ausgelöst durch schwere Planungsfehler, überforderte Veranstalter, aufgeputschte Gruppen im Publikum, das Versagen von Ordnern, technische Pannen oder unheilvolle Verkettungen von scheinbar unvorhersehbaren Ereignissen mit unkontrollierbaren Publikumsreaktionen, was immer die Ursache auch war, erschreckend viele Konzertbesucher verloren ihr Leben im Zusammenhang mit einem Pop-Großereignis.
Vor 10 Jahren kamen 9 junge Leute beim Roskilde-Festival in Dänemark ums Leben, weil übermütige Fans während des Auftritts von Pearl Jam schubsten und drückten, was zur Folge hatte, dass die Menschen zu Tode gequetscht wurden oder hinstürzten und tot getrampelt wurden.
Das gleiche Schicksal erlebten 54 Menschen ein Jahr zuvor bei einem Rockfestival in der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Hier hatte ein heftiges Unwetter zu einer panikartigen Massenflucht geführt.
Bei einem Konzert von The Who 1979 in Cincinatti, Ohio drängten Tausende von Fans so massiv in Richtung Bühne, dass dabei 11 Menschen starben. Und unvergessen bleibt als erste Tragödie in der Geschichte der Popfestivals das chaotisch organisierte Free-Concert der Rolling Stones 1969 in Altamont, bei dem ein junger Schwarzer von den als Ordnungskräfte engagierten Hells Angels erstochen wurde und drei Unfalltote zu beklagen waren.
Nichts gegen das Amüsement und rauschhafte Erlebnis auf Popfestivals, nichts gegen das euphorisierende Gemeinschaftsgefühl von Massen feiernder Musikfans, aber es scheint einen Grenzwert in der Zahl und Zusammenballung von Festivalbesuchern zu geben, bei dessen deutlicher Überschreitung die Wahrscheinlichkeit von unkontrollierbaren Risiken gefährlich ansteigt.
Offenbar gilt auch hier: weniger ist mehr. Weniger Publikumsmasse bedeutet aller Erfahrung nach mehr Sicherheit und vor allem auch mehr Qualität, was die Akustik, also den Hörgenuss, und die Optik, d.h. die sichtbare Wahrnehmung der Künstler auf der Bühne angeht.
Es gibt etliche kleinere Festivals – auch jetzt im August – die noch nie durch negative Schlagzeilen aufgefallen sind, geschweige denn durch Meldungen, dass Konzertbesucher Schaden an Leib und Leben genommen hätten. Darunter sind Festivals, die sich über Jahre einen exzellenten Ruf erworben haben.
Eine Selbstbeschränkung von maximal 5000 Besuchern hat sich das seit 27 Jahren stattfindende Haldern Pop Festival am Niederrhein auferlegt. Weil sich die Veranstalter dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet haben, gelten die Bedingungen des Festivals als vorbildlich. Das diesjährige Haldern Pop Festival, das über 40 internationale Gruppen und Solisten überwiegend aus der Indie-Popszene präsentiert, findet vom 12. bis 14. August statt und ist bereits seit Mai ausverkauft.
Empfehlenswert ist auch das Klangbad-Festival im baden-württembergischen Scheer, das vom 06. bis 08.08.stattfindet, etwa 3.500 Besucher erwartet und alternative, experimentelle und elektronische Popvarianten präsentiert.
Und um aus der großen Zahl weiterer besuchenswerter Festivals im August noch zumindest eines zu nennen: Die 21. Zappanale in Bad Doberan vom 13. bis 15. August bietet erneut musikalisch hochwertigen Pop&Rock nicht nur in der Tradition des großen Rock-Genius Frank Zappa.
Der Kramladen widmet sich in dieser Ausgabe der Geschichte der Sommer-Popfestivals und stellt die Frage nach Reiz und Risiko der Massen-Events unter freiem Himmel.
Playlist
Artist Track Album Label
0. Santana & Festivalbesucher “Peace” (O-Ton Woodstock 1969) The Best of Woodstock Atlantic
1. L. Shankar Darlene (Kramladen-Themamusik) Touch Me There Zappa Records
2. The Gaslight Anthem American Slang American Slang Sideonedummy
3. The Who I’m Free Live at The Isle of Wight Festival 1970 Essential Records / Sony / Castle
4. Pearl Jam All Those Yesterdays Yield Epic
5. The Rolling Stones Sympathy For The Devil Get Yer Ya-Ya’s Out Decca
6. Sophie Hunger Your Personal Religion 1983 Two Gentlemen
7. Janis Joplin with Big Brother and the Holding Company Piece Of My Heart Absolute Janis Columbia / Sony
8. Crosby, Stills, Nash & Young Woodstock Déjà Vu Atlantic
9. Dire Straits Money For Nothing Knebworth 1990 Polydor
10. Herbert Grönemeyer Halt mich Live EMI Electrola
11. Pink Floyd Comfortably Numb (Hintergrundmusik) Knebworth 1990 Polydor